Für Alice Schmid kam das Aufwachen mit dem Schrecken, der sie befiel, als sie im Museum Edvard Munchs Gemälde «Pubertät» (1893) sah. Da sitzt ein sehr junges Mädchen nackt auf einem Bett. Sein Schatten an der Wand ist riesig, fremd und bedrohlich.
30 Jahre lang hat Alice Schmid Filme gemacht. Zuerst als Produktionsassistentin, später in Eigenregie und als ihre eigene Produzentin. Auch darum, weil von den etablierten Schweizer Produzenten niemand ihr Thema und ihre Perspektive für interessant genug hielt.
Filme über und mit Kindern
Alice Schmid machte Filme über Kinder, mit Kindern und aus der Perspektive von Kindern. Etwa die halbstündige Missbrauchs-Dokumentation «Sag Nein» (1993), oder «Die Kinder vom Napf» (2011) und «Das Mädchen vom Änziloch» (2016).
«Ich leide an Schlaflosigkeit, lebe allein, habe keine Kinder, hatte kaum je eine Liebschaft», zählt Alice Schmid in ihrem neuen Film Umstände auf, die ihr schon lange hätten auffallen können. Therapien hat sie viele versucht im Leben. Immer wieder sei sie auch gefragt worden, ob es in ihrer Kindheit einen Missbrauch gegeben habe .
Verdrängte Erinnerung
Erst die Begegnung mit dem Bild von Munch bringt die verdrängte, vergessene Erinnerung zurück an die Nacht im Zelt mit dem Schwimmtrainer, mit 16 Jahren im Sommerlager. «Ich bin am Abend in dieses Zelt gegangen. Und ein Teil von mir ist nicht mehr herausgekommen.»
Dieser Satz fällt spät in «Burning Memories». Der Film nähert sich dem Moment an, in dem Alice Schmid das Geschehen schildern kann. Es in Zusammenhang bringt mit den Schlägen von der Mutter, der Interesselosigkeit des Vaters.
Vermittlungsarbeit an der Grenze
«Burning Memories» ist nicht das Protokoll einer Selbsttherapie. Auch wenn das tastende Vorgehen beim Planen, Drehen und Montieren dieses Dokumentarfilms die Therapie gewesen sein dürfte: Was wir zu sehen und zu hören bekommen, ist das Resultat sorgfältiger Vermittlungsarbeit an mehreren Grenzen.
Zunächst jene der Autorin mit sich selber. Dann aber auch die ihrer Mitarbeiterinnen, vor allem Anja Bombelli und Karin Slater, die Kamerafrau, die beim Drehen in Südafrika ganz subtil den Fokus von Alice Schmids Blick aus sich heraus auf Alice Schmid selber gelenkt hat.
Direkt und verwurzelt
Da gibt es neben den symbolhaft aufgeladenen, wunderschönen Landschaftsbildern immer wieder kleine Überraschungen. Ein Turnschuh, der trotzig an einem Weidezaundraht rupft, steht an einem Ende dieser Skala. Die kleine Maus in einer Falle am anderen.
Überhaupt verpackt Alice Schmid mit diesem Film weder das Leiden noch die Suche und schon gar nicht den Erkenntnisprozess in Kunst oder Künstlichkeit. Ihre Bilder sind intuitiv zusammengestellt und wirken direkt, fast so «volkstümlich» wie die Akkordeonmusik der Filmemacherin. Schmerzliche Sehnsucht.
Keine schützende Ironie
So, wie Alice Schmid alles Gekünstelte vermeidet, verzichtet sie auch auf schützende Ironie. Die schier endlose Aufzählung aller Heilversuche für ihre lebenslange Schlaflosigkeit setzt nicht auf entschuldigende Komik, sondern auf Unverblümtheit.
Auch Niall Campbell, der südafrikanische Heiler, der ihr schliesslich beim Durchbruch hilft, nutzt einmal sehr handfeste Metaphorik im Hinblick auf das produktive, funktionierende «System Alice»: Das Auto läuft, du brauchst keinen Mechaniker. Da klemmt nur die Fahrerin.
«Burning Memories» ist selbsterklärend und grösser als die Summe aller Eindrücke. Was Alice Schmid mit diesem Film lernt und lehrt, dockt bei uns allen an. Ein Film mit offen sichtbarem Getriebe, einer einleuchtenden Mechanik und einer eindrücklichen, sehr positiven Energiebilanz.