«Zombies? Horrorfilme? Das Zeug kann ich nicht gucken. Und Du gehst da freiwillig hin?» Nein. Ich gehe nicht freiwillig ans NIFFF, ans Neuchâtel International Fantastic Film Festival. Ich muss da hin, unbedingt. Jedes Jahr. Das NIFFF gehört zu meinen Zen-Orten im ansonsten eher irren Kinojahr. Nach dem Globalstress der weltbesten Filme im Mai in Cannes, und vor dem Lokalstress der täglichen Live-Sendungen vom Filmfestival in Locarno kann ich in Neuenburg genau das geniessen, was meine Liebe zum Kino über all die Jahre befeuert und am Leben gehalten hat: Überbordende Fantasie, kunstvolle Welten jenseits des immer langweiliger werdenden Movie-Mainstreams für Fünfzehnjährige.
Untergrund, Insiderfeiern und Avant-Garde
Entgegen landläufiger Vorurteile ist das NIFFF kein Blutbad, sondern ein feines kleines Sommerfestival mit ebenso familiärer wie internationaler Atmosphäre. Der fantastische Film gehört – wenn nicht gerade Peter Jackson seine Hobbits inszeniert – zu den Nischenprodukten des Weltkinomarktes. Das sind Filme zwischen Untergrund, Insiderfeiern und Avant-Garde. Fringe-Benefits, im wörtlichsten Sinne.
Ob Horror, Science-Fiction oder Kung-Fu-Krimi mit Western-Einschlag: Was das NIFFF-Kino auszeichnet, ist eines der ewigen Paradoxa des Unterhaltungskinos: Trash wird zur Kunst, sobald jemand mit echter Begeisterung dabei ist. Denn all diese Nischenprodukte sind die Spielwiesen von Filmverrückten, Fantasiebegabten und energiegeladenen Kreativbolzern. Ob die Herren (und immer öfter auch Damen) nun ein kleines Budget mit grossem Einsatz und grossen Ideen kaschieren, oder ob sie ein brennendes Thema mit subversivem Witz angehen, ein Grundsatz gilt fast immer:
Beim fantastischen Film sind sogar die Schlechten gut
Das hat einen ganz einfachen Grund: Statt auf spekulative Big-Budget-Langeweile und kalkulierte Publikumsoptimierung setzen sie auf Eingeweihte und Zugewandte. Das fantastische Kino spielt mit dem Vorwissen und den Erwartungen seines Publikums. Und spielen kann man nur, wenn man mit ganzem Herzen dabei ist. Das weiss jeder, der kein Kind mehr ist und sich fragt, was das im Alltag verändert hat.
Man kann auch sagen: Das fantastische Kino nimmt die Realität und macht sie grösser. Oder kleiner. Oder witziger. Oder auch mal schlimmer, damit die Dinge wieder besser werden können. Das fantastische Kino ist selbst dort utopisch, wo es sich dystopisch gibt. Denn jedes Schreckensszenario lebt letztlich davon, dass unsere Realität (noch) nicht so schrecklich ist, wie man sie da neunzig Minuten schwarzgemalt bekommt.
Geschminkte Goth-Mädchen und pensionierte Gymlehrer
Am besten ist das am NIFFF zu sehen, wenn der eine Film zu Ende ist, und der nächste noch nicht begonnen hat. Wenn unter den alten Bäumen an den langen Tischen vor dem Zelt beim Kino Apollo in Neuchâtel der pensionierte Gymnasiallehrer neben dem dunkel zugeschminkten Goth-Mädchen mit der Teddybärtasche sitzt. Beide mit einem Becher Bier in der Hand und einem zufriedenen Lächeln im Gesicht.
Vielleicht haben sie eben eine grossartige, wilde Liebes-Geschichte gesehen wie «Chimères», den ersten langen Spielfilm des Neuenburgers Olivier Beguin, der dieses Jahr die Schweiz im internationalen Wettbewerb vertritt. Beguin, dem NIFFF-Publikum seit Jahren mit seinen Kurzfilmen vertraut, hat versucht, eine Paarbeziehung mit halluzinativem Body-Horror im Stil des kanadischen Altmeisters David Cronenberg zu imaginieren. Ob das gelungen ist? Ich hoffe es. Falls aber nicht, wird mich der Besuch des Filmes ganz sicher nicht reuen. Denn mit Beguins Herzblut steckt schon mal das wichtigste Kinoelement überhaupt in der Produktion.
Ein sommerliches Volksfest
Vielleicht überbrückt das Goth-Mädchen neben dem pensionierten Gymnasiallehrer mit seinem Bierbecher aber auch einfach die Zeit zum nachmitternächtlichen Ultra-Movie, etwa «Gallowwalkers» des Amerikaners Andrew Goth (der heisst so!), einem Film, der als Gore-Western angekündigt ist und seine Dankbarkeit gegenüber Sergio Leone bildmässig offensichtlich nicht verleugnen mag. Auch wenn sein schiesswütiger Antiheld sich mit den Leichen, die er überall hinterlässt, aufgrund eines Fluches mehrfach beschäftigen muss: Sie kommen wieder.
Ja, sie kommen wieder. Das NIFFF hat sein Stammpublikum, und das besteht nur zum kleinsten Teil aus den einschlägigen Fangoria-Kids aus halb Europa. Die meisten, welche in die mittlerweile fünf rege bespielten Säle strömen, sind ganz reguläre Neuenburger jeden Alters. Das NIFFF ist ein sommerliches Volksfest mit internationalen Begegnungen.
Grosse Namen im kleinen Städtchen
Denn NIFFF-Direktorin Anaïs Emery und ihr geschlechterspezifisch erstaunlich ausgewogen zusammengesetztes Team bringen Jahr für Jahr internationale einschlägige Grössen an den Neuenburger See. Ich habe am NIFFF den Vater der modernen Zombies getroffen, George A. Romero, einen unglaublich liebenswürdigen Altmeister mit nach wie vor radikal sozialen und humanen Ideen. Aber auch Douglas Trumbull, Kubricks Spezial-Effekt-Meister von «2001 – A Space Odyssey», der diesen Sommer einer der Ehrengäste in Locarno sein wird.
Oder Joe Dante, Regisseur von «Piranha» von 1978, aber auch von «Gremlins», oder «Matinee» mit John Goodman, einer der schönsten Liebeserklärungen an das klassische Schlock-Kino überhaupt. Dante sass als Jury-Mitglied meist mitten unter den Leuten und liess sich begeistert in Gespräche verwickeln.
Szenetreffen des fantastischen Films
Dieses Jahr ist einer der Gäste der 75jährige Larry Cohen, als Drehbuchautor Zeit seines Lebens unerschöpflich, als Regisseur so unabhängig wie möglich, und als Monumentalfigur des intelligenten B-Pictures ungeschlagen.
Dass diese Leute nach Neuenburg kommen, hat nicht nur damit zu tun, dass die Stadt am sommerlichen See sie mit einem wunderbaren Luxushotel direkt am Wasser locken kann, sondern auch und vor allem mit dem Ruf, den die früheren Gäste dem NIFFF eingetragen haben: Hier treffen sie auf Menschen, die sich mit ihrer Arbeit begeistert auseinandersetzen, auf echte Fans und auf Leute, die bereit sind, sich auf etwas einzulassen, das sie noch nicht kennen. Und sie treffen auf Kollegen aus der ganzen Welt.
Denn auch das gehört zum NIFFF: Die Fantasie kennt keine Grenzen, und die Freunde des fantastischen Films sind zugleich globalisiert und familiarisiert. Man kennt seine Klassiker, man hat gemeinsame Referenzpunkte. Man trifft sich in der gemeinsamen Freude an Filmen, deren Wert man Frau Sturzenegger von der Schulpflege nicht immer erklären mag. Und alle lieben ein Kino, das irgendwie längst untergegangen ist und sich trotzdem als langlebiger erweist, als vieles sonst an der siebten Kunst: Das grenzenlose Kino der Fantasie.