Wer einen guten Film machen will, braucht eine Geschichte, die verblüfft, überrascht, berührt, die sehr traurig oder besonders lustig ist, und die im besten Fall auch noch wahr ist. Das Buch von Martin Sixsmith «The Lost Child Of Philomena Lee» ist so ein Stoff.
Es ist die Geschichte einer Frau, die im rigiden und streng gläubigen Irland der 1950er-Jahre als Teenager schwanger wird und von den Eltern in ein Magdalenen-Heim abgeschoben wird.
Noch bis in die 1990er-Jahre existierten diese katholischen Institutionen, in denen «gefallene Mädchen» regelrecht interniert wurden. Wenn junge Frauen unehelich schwanger wurden, nahm man ihnen nach der Geburt die Babys weg und verkaufte sie (illegal) an gut zahlende Paare.
In seinem Buch erzählt Sixsmith die Geschichte der Philomena Lee und wie er als Journalist sie auf der Suche nach ihrem erwachsenen Sohn begleitet. Es ist eine wahre, gute und berührende Geschichte, die Sixsmith erzählt. Und gut zu verfilmen als berührendes Drama.
Das berührende Drehbuch eines Komikers
«Philomena» ist ein wirklich guter Film geworden, ein Beispiel klassischer Erzählkunst, intelligent geschrieben, mitreissend inszeniert. Und gut gespielt sowieso, von Judi Dench als Philomena und Steve Coogan als Journalist Martin Sixsmith.
Was aber wirklich erstaunlich ist: «Philomena» ist nicht nur Drama, der Film ist auch Komödie, erfrischend, frech und witzig. Steve Coogan, ein bekannter britischer Komiker, spielt nicht nur die männliche Hauptrolle, er hat auch zusammen mit Jeff Pope das Drehbuch geschrieben, das in Venedig als bestes Drehbuch des Festivals ausgezeichnet wurde.
Ihm ist wohl auch zu verdanken, dass trotz des bedrückenden Themas erstaunlich viel Witz und Schalk in den Dialogen zwischen der etwas naiven, gläubigen und stets überaus höflichen Philomena und dem etwas zynischen Journalisten steckt. Der Witz wirkt nie unpassend, er macht sich nicht über seine etwas ungebildete Protagonistin lustig. Er wird befeuert durch die unterschiedlichen Denk- und Lebenswelten, in denen die beiden Protagonisten sich bewegen.
Menschliche Schicksale mit Selbstironie
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«Human Interest» nennt man im Journalismus Geschichten wie die von Philomenas Suche nach ihrem Sohn. «Menschliche Schicksale» könnte man auf Deutsch sagen. Ein Genre, das der Journalist Martin Sixsmith eigentlich verachtet: Er ist von Haus aus politischer Journalist und ehemaliger Abgeordneter.
Dass der Film «Philomena» auch eine solche «Human Interest Story» ist, gibt immer wieder Anlass zu augenzwinkernden, selbstironischen Brechungen in witzigen Szenen. Wie in dieser, in der über echte und falsche Namen in «wahren Geschichten» gesprochen wird: «Müssen wir meinen echten Namen benutzen?», fragt Philomena einmal. «Warum nicht Anne, Anne Boleyn? Das ist ein hübscher Name. Aber jemand hiess schon mal so, oder nicht?»
Kino der grossen alten Damen
Stephen Frears mag nicht der innovativste Regisseur sein, der neue Erzähl- und Darstellungsformen ausprobiert. Aber er weiss zu inszenieren, und er weiss, wie grosse alte Damen in Szene zu setzen sind – wie Helen Mirren in «The Queen» und jetzt Judi Dench in «Philomena».
Dass Kinogängerinnen und Kinogänger diese Art von Filmen schätzen, war auch bei der Uraufführung des Films in Venedig im letzten Herbst zu spüren und zu hören. Nach der Pressevorführung gab es – etwas sehr Seltenes bei der kritischen Presse – minutenlangen Applaus. Und man hörte allerorten den Satz: «Endlich mal wieder ein richtig guter Film!»