Ende September im Engadin, irgendwann in einer nicht klar definierten Vergangenheit: Klein-Uorsin hilft seinen Eltern bei der Alpabfahrt. Dann geschieht das Unglück: Der im Sommersitz «Maiensäss» produzierte Käse, die Haupteinnahmequelle der Familie, stürzt den Berg hinunter. Im Tal freut sich der reiche Ladenbesitzer Armon über das «gefundene Fressen», das in Form prächtiger Käse-Laibe in seine Hände purzelt.
Uorsins Familie muss sich in der Folge bei Armon verschulden, um durch den harten Winter zu kommen. Wie ungerecht! Schmerzlich bewusst wird Uorsin der niedrige Status seiner Familie bei der Glockenvergabe für den traditionellen Frühlingsumzug «Chalandamarz». Uorsin erhält die mit Abstand kleinste Glocke und kriegt obendrauf auch noch den Spitznamen «Schellen-Ursli» verpasst.
Das frechste Zitat
Nein, ein Rotzbengel ist Kollers «Schellen-Ursli» nicht, auch wenn er ab und zu den Rebell markiert. Wenn er beispielsweise von zu Hause abhaut, um eine grössere Glocke zu ergattern. Oder wenn er gegenüber seinen Eltern den rauen Umgangston mit der süssen Seraina rechtfertigen muss: «I bi kei Meitli-Schmöcker!» Oder anders ausgedrückt: Mädchen kriegen von mir keinen Bonus – für die verbieg' ich mich um keinen Zentimeter!
Der Regisseur
Schweizer Oscarpreisträger – davon gibt’s nicht allzu viele. Unter den Regisseuren erst recht nicht. In der Kategorie «Bester fremdsprachiger Film» sogar nur einen: Xavier Koller. Nach dem Triumph mit dem Flüchtlingsdrama «Reise der Hoffnung» anno 1991 schien der Schwyzer sogar in Hollywood Fuss zu fassen. Doch dann folgte eine Pechsträhne: Kollers erstes Projekt für Disney wurde aus strategischen Gründen früh aus den Kinos zurückgezogen. Ein weiterer Hollywood-Film schaffte es wegen des Konkurses der Produktionsfirma erst gar nicht auf die Leinwand. Unter einem besseren Stern stehen Kollers jüngste Schweizer Werke. Diese punkten beim Publikum mit viel Lokalkolorit: «Eine wen iig, dr Dällebach Kari» (Bern), «Die schwarzen Brüder» (Tessin) und nun «Schellen-Ursli» (Graubünden).
Fakten, die man wissen sollte
Die Handlung des Bilderbuchs füllt im Film bloss die letzten 20 Minuten: Die Geschichte des Bergbauern-Sohnes, der sich zu Hause vom Acker macht, um für das Frühlingsfest die grösste Glocke zu holen. Davor erzählt Xavier Koller, der das Drehbuch zusammen mit Stefan Jäger verfasst hat, viel Neues über Uorsin: Zum Beispiel, dass er gerne mit Tieren spricht. Nicht nur mit seiner Geiss «Zilla», sondern auch mit seinem besten Freund, einem Wolf. Uorsins ärgste Feinde sind Menschen, die aus der finanziellen Misere seiner Familie Profit schlagen: Feuerkopf Armon und sein verwöhnter Sohn Roman. Die Kluft zwischen Arm und Reich, die in der Original-Geschichte kein Thema war, macht Uorsins Handeln erst richtig verständlich: Als Junge aus der Unterschicht will er mit einer möglichst grossen Glocke den tiefen Status seiner Familie erhöhen.
Das Urteil
Von wegen: Früher war alles besser! Der neue «Schellen-Ursli» besticht nicht nur mit dem spitzbübischen Charme des Kinderbuch-Klassikers. Der Film bietet darüber hinaus auch noch eine gesunde Portion Sozialkritik. Uorsin akzeptiert es nicht, als Schellen-Ursli gehänselt zu werden, nur weil seiner Familie das Geld für eine grössere Glocke fehlt. Im Grunde geht es hier also um die Weigerung eines stolzen Knaben, ein gesellschaftlicher Underdog zu sein. Hauptdarsteller Jonas Hartmann – der Sohn einer Bündnerin und eines Kurden – verkörpert diese Rolle perfekt. Der Zwölfjährige schwingt sich unter Xavier Kollers Fittichen zum grossen Sympathieträger für Kinder auf. Ein «Schellen-Ursli» frei vom Mief der Geistigen Landesverteidigung, der dem 1945 erschienenen Bilderbuch bis heute anhaftet.
Kinostart: 15.10.2015