Die Serienlandschaft hat sich im vergangenen Jahrzehnt radikal verändert. Aus der billig produzierten Dutzendware sind komplexe Erzählungen geworden, die sich anspruchsvoll und erwachsen geben. Der neue Anspruch zeigt sich auf ziemlich allen Ebenen: Die Plots sind raffinierter, die Budgets höher und vor und hinter der Kamera agieren immer häufiger bekannte Namen.
Am sichtbarsten wird der Wandel aber, wenn es ans Eingemachte geht: um Sex und Gewalt. Was Serien wie «Game of Thrones» oder «Spartacus» zeigen, wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Dies gilt vor allem für die Darstellung von nackter Haut.
Liebe gab es immer, Sex aber kaum
Dabei sind Fernsehserien Liebesnöte in all ihren Schattierungen keineswegs fremd. Ob das Intrigantenstadl «Dallas», die sich stetig wandelnden Paarungen in Serien wie «Lindenstrasse», «Beverly Hills 90210» und «Marienhof» oder Carrie Bradshaw und ihre Freundinnen in «Sex and the City»: An fleischlichen Begierden hat es im Fernsehen nie gemangelt.
Selbst in einer vorderhand nicht sonderlich romantischen Welt wie der von «Star Trek» zwischenmenschelt es immer wieder. Tatsächlich war in der Science-Fiction-Serie erstmals in der Geschichte des US-amerikanischen Fernsehens zu sehen, wie ein Weisser eine Schwarze küsst. Trotz dieser vereinzelten Grenzüberschreitungen blieben die Verhältnisse aber zahm. Mehr als ein Kuss war lange Zeit undenkbar, nackte Haut ein Tabu.
Ganz anders dagegen der aktuelle Serien-Hit «Game of Thrones»: Hier kopuliert jeder mit jedem, und die so genannte «full frontal nudity» – das vollständige Zeigen das nackten Körpers – ist fast an der Tagesordnung.
Ökonomisches Kalkül
Dass so explizite Bilder heute möglich sind, ist nicht primär Ausdruck veränderter moralischer Standards, sondern folgt ökonomischem Kalkül: Sender wie HBO oder AMC funktionieren nach dem Pay-TV-Modell, bei dem die Zuschauer monatlich für das Gezeigte zahlen.
Folglich unterliegen die Sender keinen staatlichen Kontrollen und sind auch nicht auf Werbekunden angewiesen. Die gewagten, «erwachsenen» Inhalte werden so zum Alleinstellungsmerkmal im Kampf um Abonnenten.
Sendung zum Thema
Das zeigte sich bereits in «The Sopranos», jener Serie, mit der HBO um die Jahrtausendwende das Zeitalter der modernen Qualitätsserien einläutete. Nicht nur bediente sich Mafiaboss Tony Soprano eines Vokabulars, das auf einem öffentlichen Sender sofort zu Bussen geführt hätte. Zahlreiche Szenen spielten zudem in einem Stripclub, wo naturgemäss viel halbnacktes Personal zu sehen war.
Liebeszeit ist tote Zeit
Beschränkten sich Serien wie «The Sopranos» oder «The Wire» im Wesentlichen darauf, ihre Stories mit expliziter Sprache und dem einen oder anderen blanken Busen aufzupeppen, geht insbesondere «Game of Thrones» auch erzählerisch neue Wege. Was die Verfilmung von George R. R. Martins Romanzyklus auszeichnet, ist nicht zuletzt, wie sie Sex einsetzt.
Normalerweise – und das gilt für grosse Teile der Filmgeschichte – sind Liebesszenen erzählerische Totzeit. In Seifenopern wie «Beverly Hills 90210» oder auch «Desperate Housewives» gilt das Interesse in erster Linie der Frage, ob die Liebenden zusammenkommen. Entsprechend wird die eigentliche Liebesszene hinausgezögert, denn mit ihr ist die Handlung an ihrem Ende angelangt.
Die Liebesszene markiert somit primär, dass das Paar nun vereint ist, der Plot schreitet in diesem Moment aber nicht mehr voran. Vielmehr muss nun sogleich eine neue Komplikation auftreten, welche die erzählerische Dynamik in Gang hält.
Mehr als Sex
Ganz anders dagegen «Game of Thrones»: Hier geschehen im Geschlechtsakt entscheidende Dinge. Es werden Figuren charakterisiert und Machtverhältnisse neu ausgelotet. Exemplarisch zeigt sich dies an der Figur von Daenerys Targaryen, die zu Beginn der Serie von ihrem machtgeilen Bruder an den furchteinflössenden Nomadenfürsten Khal Drogo verschachert wird. Anfangs ist Daenerys für Drogo bloss ein seelenloses Stück Fleisch, das er jede Nacht vergewaltigt: von hinten, ohne ihr je ins Gesicht zu schauen.
Der Wendepunkt kommt, als sie die Kontrolle übernimmt: auf ihrem Gemahl sitzend und mit direktem Blickkontakt. Das Verhältnis der beiden Figuren wendet sich, und aus dem verschüchterten Mädchen wird allmählich die wild entschlossene «Mother of Dragons», die in der Folge Sklaven befreien und ganze Städte in Schutt und Asche legen wird.
Fans bezeichnen diese für die Serie charakteristische Verbindung von Sexszene und Figurenentwicklung liebevoll ironisch als «Sexposition». Der Zusammenzug von «Sex» und «Exposition» benennt dabei durchaus treffend, worum es geht: Dass geschickt eingesetzte Sexszenen neue erzählerische Möglichkeiten bieten.
«Game of Thrones» treibt diese Form derzeit am weitesten, aber die Konkurrenz wird zweifellos reagieren.