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Studenten in einem Vorlesungssaal. Eine Frau schreibt auf einem Laptop. Die Bänke sind grün.
Legende: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm: Die Eltern von Studenten haben meist eine Universität besucht. Keystone

Gesellschaft & Religion Akademiker haben meist Akademiker-Eltern – warum?

Zwar ist die Kluft kleiner als in den Nachbarländern, aber auch in der Schweiz gilt: Akademikerkinder besuchen viel häufiger eine Universität als andere junge Leute. Von Chancengleichheit kann nicht die Rede sein. Warum das so ist – und wie das Problem der Ungleichheit gelöst werden könnte.

Die Forderung ist alt: Der Bericht Labhardt hielt 1964 fest, dass das Schweizer Bildungssystem Frauen, Jugendliche aus den Landregionen und solche aus bildungsferneren, unteren Schichten stärker fördern müsse.

Bewegt hat sich seither vor allem in der Geschlechterfrage viel. Doch die soziale Ungleichheit bleibt. Wer je ein Gymnasium oder eine Hochschule besuchte, fragte vielleicht die Klassenkameradinnen und Mitstudenten nach den Berufen ihrer Eltern. Ärztinnen, Ingenieure, Soziologinnen und Architekten waren darunter, Juristen und Professoren. Aber kaum Bauern noch Verkäuferinnen, Schreiner, Fabrikarbeiter oder Ungelernte.

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Von klein auf ungleich

«Wir haben ein Chancengleichheitsproblem», stellt der Bildungsökonom Stefan C. Wolter fest. Er leitet die Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung und betreute den «Bildungsbericht Schweiz 2014». Die Chancengleichheit («Equity») wird darin stark gewichtet. Die sozialen Schichten haben nicht in gleichem Mass Zugang zu Bildung. Die Ungleichheit beginnt dabei früh: «Die sozioökonomische Abhängigkeit der Leistungen zeigt sich schon beim Schuleintritt», sagt Wolter.

Die unterschiedlichen Chancen sind vorgespurt. Das Schulsystem behebe sie nicht und verstärke sie teilweise sogar. Kinder aus bildungsferneren Schichten und Kinder mit Migrationshintergrund hätten beispielsweise einen kleineren Wortschatz als ihre Alterskameraden aus höheren Bildungsschichten. Oft verstünden sie «nur die Hälfte von dem, was die Lehrerin erzählt», weil ihnen die Wörter unbekannt seien oder sie selbst andere Begriffe verwenden würden, so Wolter.

Inés Mateos, Expertin für Bildung und Diversität in Basel, erklärt, dass man einst mit Chancengleichheit «das katholische Mädchen vom Land» gemeint habe. Heute müsse man die urbanen Jugendlichen mit Migrationshintergrund miteinbeziehen.

Lehrer auf Heterogenität im Klassenzimmer vorbereiten

Zwei Frauen mit Kopftuch an einem Pult. Man sieht sie von hinten.
Legende: Zu wenig Förderung: Das Schulsystem verstärkt oft die ungleichen Bildungschancen von Menschen mit Migrationshintergrund. Keystone

Die angehenden Lehrkräfte müssten bei ihrer Ausbildung besser auf die Heterogenität im Klassenzimmer vorbereitet werden, sind sich Wolter und Mateos einig. Die frühe Selektion sei problematisch, sagt Mateos. Tagesschulen seien ein zentrales Element zur Verbesserung der Chancengleichheit im Bildungssystem. Denn heute sei dieses sprachlich und inhaltlich auf die Mittelschicht ausgerichtet. Gerade Eltern aus der Unterschicht könnten ihre Kinder beim Lernen nicht so intensiv unterstützen, wie es für den Schulerfolg notwendig wäre.

Charles Stirnimann, Leiter des Amts für Ausbildungsbeiträge des Kantons Basel-Stadt, fragt sich, ob das Bildungspotential der Gesellschaft wirklich ausgeschöpft werde: «Der Kanton St. Gallen hat eine gymnasiale Maturitätsquote von 12.7 Prozent. Genf, Tessin und Basel-Stadt haben 28 bis 29 Prozent. Da könnte man die Hypothese wagen, dass im Kanton St. Gallen ein begabtes Unterschichtskind mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht im ersten Anlauf ins Gymnasium kommt.»

Stefan C. Wolter deutet die Zahlen anders: An Gymnasien seien Oberschichtskinder übervertreten, weil auch solche den Übergang schaffen, deren Leistungen sie dafür nicht qualifizieren.

Buchhinweise

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Zur Situation in der Schweiz:

«Bildungsbericht Schweiz 2014», herausgegeben von der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, Projektleiter: Stefan C. Wolter, 2014.

Zur Situation in Deutschland:

Marco Maurer: «Du bleibst, was du bist. Warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheidet», Droemer, 2015.

Kinder von Akademikern gehen eher an die Uni

Auf höheren Stufen setzt sich die Ungleichheit fort: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Akademikerkind eine Hochschule besucht, liegt in der Schweiz 1,5 Mal höher als die eines Nichtakademikerkindes. Immerhin klafft die Schere nicht derart auseinander wie in den Nachbarländern (Faktoren 1,8 bis 3,2).

Wer einen Akademiker zum Vater hat, wird doppelt so häufig an einer Universität studieren als ein Nichtakademikerkind. Der Zugang zu den Fachhochschulen ist dagegen weniger selektiv.

Stipendien als mögliche Lösung

Eine Möglichkeit, die Ungleichheit zu verringern, sind Stipendien. Sie machen ein Prozent der Bildungsausgaben des Landes aus. 2013 wendeten die Kantone dafür 334 Millionen Franken auf, der Bundesbeitrag von 25 Millionen eingerechnet.

Zu reden geben – besonders vor der Abstimmung über die Stipendieninitiative am 14. Juni – die Unterschiede zwischen den Kantonen hinsichtlich Stipendienquote und -höhe. Das Interkantonale Stipendienkonkordat, an dessen Ausarbeitung Charles Stirnimann beteiligt war, versucht seit 2013 diese Unterschiede zu harmonisieren – nicht nur für die Hochschulstufe, auf die sich die Initiative konzentriert.

Das liebe Geld

«Das Stipendienwesen kann natürlich nicht die bestehende Chancenungleichheit in unserer Gesellschaft beseitigen, sondern im besten Fall einen wichtigen Beitrag leisten, um sie insgesamt zu relativieren und zu minimieren», sagt Stirnimann. Am Geld scheitere in der Schweiz wohl keine Bildungslaufbahn, betont er.

Diesen Befund bestätigen Untersuchungen des Bildungsforschers Nils Heuberger der Universität Lausanne. Er stellt fest, dass die Finanzen in der Schweiz bei Bildungsentscheidungen keine grosse Rolle spielen.

Eltern geben Werte und Informationsdefizite weiter

Die Wahl des Bildungswegs hängt zudem mit unterschiedlichen Werten zusammen. Der «Bildungsbericht Schweiz 2014» dokumentiert, dass bildungsfernere Schichten bei der Berufswahl die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt hoch gewichten – und deshalb zur Berufslehre tendieren. Die gymnasiale Bildung geniesst dagegen höheres gesellschaftliches Prestige.

Eltern geben ihre Denkmuster an ihre Kinder weiter. Auch ihre Informationsdefizite: Ein Kind, das noch nie davon gehört hat, welche Möglichkeiten der Gymnasiumsbesuch oder die Berufslehre bieten, kann sich gar nicht für das eine und gegen das andere entscheiden. Es wird mit grosser Wahrscheinlichkeit denselben Weg wählen wie seine Eltern. Der Blick auf die Chancengerechtigkeit im Bildungswesen zeigt eine geteilte Gesellschaft.

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