Seit der Bürgerkrieg in Syrien im Gang ist, sind neun Millionen Menschen innerhalb des Landes und in den Nachbarländern auf der Flucht. Über vier Millionen Kinder und Jugendliche haben kein zu Hause mehr.
Besonders schwierig ist die Situation für syrische Mädchen. Bei jeder vierten Ehe, die gegenwärtig unter syrischen Flüchtlingen geschlossen wird, ist die Braut unter 18 Jahre alt. Saba Al Mobaslat, Länderdirektorin für Jordanien beim internationalen Kinderhilfswerk «Save the Children», kennt diesen Nebenschauplatz des Krieges.
Das Kinderhilfswerk «Save the Children» hat kürzlich einen Bericht über die Situation syrischer Mädchen auf der Flucht veröffentlicht und schlägt Alarm. Warum?
Saba Al Mobaslat: Wir stellen fest, dass sich die Zahl der Kinderehen seit Beginn des Syrienkriegs verdoppelt hat. Bei einem Viertel der Ehen, die in den Camps geschlossen werden, ist die Braut unter 18 Jahre alt. Man kann Leute auf verschiedene Weise töten, dazu braucht es nicht unbedingt eine Waffe oder einen Giftgasangriff. Es reicht, das Kind mit solch einer Heirat in ein noch grösseres Elend zu stürzen.
Wie hat «Save the children» gemerkt, dass die Zahl der Kinderehen in den Flüchtlingslagern zunimmt?
Durch unsere Arbeit in den Flüchtlingslagern in Jordanien und im Kontakt mit den Mädchen selbst. Wir stellten fest, dass unsere Freizeitangebote immer weniger besucht wurden. Als wir dem nachgingen, merkten wir, dass viele nicht mehr kamen, weil sie in der Zwischenzeit verheiratet worden waren. Das war für uns ein grosser Schock.
Aus welchen Gründen entscheiden sich Eltern dafür, ihre minderjährigen Töchter zu verheiraten?
Wir kommen zum Beispiel in einen Haushalt ohne Familienvorstand – der Vater wurde auf der Flucht erschossen. Wir finden eine Mutter vor, die kein Einkommen hat. Bei vier oder fünf Kindern ist es die einfachste Lösung, die Töchter früh zu verheiraten, um so die ökonomische Misere der Familie zu lindern. In einem andern Fall treffen wir auf eine ganze Sippe mit vielen männlichen Verwandten aus weit entfernten Familienzweigen, die notgedrungen alle unter einen Dach leben. Die Tradition verbietet es aber, dass ein junges Mädchen mit fremden Männern im gleichen Haus wohnt. Dann wird eine Verheiratung als naheliegend und Gott gefällig betrachtet.
Die Mädchen haben zu ihrer Verheiratung nichts zu sagen. Können Sie überhaupt mit den Betroffenen über das heikle Thema sprechen?
Für den Bericht beteiligte ich mich selbst an den Gesprächen: Ich fühle mich als Araberin verpflichtet. Ich kenne die Tradition und Religion und arbeite zugleich für eine internationale Organisation. Da möchte ich die Kluft zwischen den Kinderrechten und den religiösen Vorgaben überbrücken. Mit Mädchen über dieses Thema zu sprechen, ist nicht leicht. Aber man muss mit ihnen selbst reden und auch mit ihren Müttern. Es ist herzzerreissend, einer 13-Jährigen gegenüber zu sitzen, die im zweiten Monat schwanger ist. Wir sind beschämt, dass dies im 21. Jahrhundert noch geschieht.
Sprechen Sie auch die Väter auf dieses Thema an?
Wir versuchen die Väter indirekt zu erreichen, indem wir die Imame der Moscheen angehen. Sie sind wichtig, weil sie mit den Leuten reden können, wenn sie in die Moschee kommen. Ihre Stimme gilt etwas. Wir fordern die Imame auf, den Vätern klar zu machen, warum sie Kinderehen ablehnen sollten.
Was können Sie für Mädchen tun, die bereits verheiratet worden sind?
Familienplanung ist ein Thema. Das Letzte, was man einer 14-Jährigen wünscht, ist eine Schwangerschaft. Wir bemühen uns auch darum, dass verheiratete Mädchen weiter zur Schule gehen können und nicht isoliert werden. Und dann geht es um die praktische Bewältigung des Alltags als Ehefrau. Wir helfen den Mädchen, die Anforderungen im Haushalt zu erfüllen, wenn sie kochen und Kleider waschen müssen. Und wir beraten sie, wenn sie Probleme im Umgang mit dem Ehemann haben. Wir versuchen, die Situation zu kontrollieren und den Schaden zu begrenzen.
Wie schützen Sie sich selbst vor Resignation?
Ich bin froh, dass ich immer noch schockiert sein kann, denn das treibt mich an, mich weiter zu engagieren. Besonders schwierig ist jetzt, dass es um meine Heimat geht. Das ist der Ort, wo meine Kinder leben. Wenn ich dann von einem der Flüchtlingslager nach Hause fahre frage ich mich oft: Wie kann ich alle diese Menschen zurücklassen, meine Kinder abholen und danach mit ihnen ein gutes Abendessen in einem schönen Restaurant geniessen? Da tun sich Widersprüche auf – aber am Tag darauf bin ich wieder im Lager und sehe Kinder, die dort spielen. Und dann wird mir wieder klar, dass das, was ich tue, Hoffnung gibt.