Wer bin ich? Was soll ich tun? Wie soll ich leben? An diesen Fragen haben sich schon die grössten Philosophen, Religionsstifter und Psychoanalytiker die Zähne ausgebissen. Nun liegen die Antworten endlich auch für Laien in greifbarer Nähe, ja: Sie sind bloss ein paar Touchscreen-Streicheleinheiten entfernt. Seit einigen Monaten kursiert im Netz nämlich eine Reihe von Quizspielen, bei denen der Nutzer nur eine Handvoll scheinbar unzusammenhängender Fragen beantworten muss, um am Ende erklärt zu bekommen, wer er ist und was er will.
Smartvote für den Alltag
Welchen Beruf soll ich ausüben? In welcher Stadt soll ich leben? Was ist meine Lieblingsband, und welcher Sommerdrink schmeckt mir am Besten? Die Funktionsweise ist ähnlich wie bei jenen Programmen, die unschlüssigen Wählern bei der Entscheidung helfen, welcher Partei sie ihre Stimme geben sollen: Anhand von Metadaten errechnet ein Algorithmus ein Gesamtbild, das dann mit einer Reihe von Idealtypen abgeglichen wird. Smartvote für den Alltag.
Das ist einerseits konsequent postmodern: Denker wie Michel Foucault postulieren schon seit Jahrzehnten, dass der Mensch nichts weiter sei als ein Knubbel von Diskursfäden, die seine Wünsche, Lüste und Gedanken bestimmen. Und die Philosophin Rahel Jaeggi meint, dass es ein «wahres Selbst» jenseits äusserer Prägungen gar nicht gebe: «Gerade mit Blick auf die Vergangenheit wird klar, dass wir in unserem Wollen nie ganz frei sind. Vielmehr sind wir bestimmt durch unsere Herkunft, unsere Kindheit, (…) auch durch unsere Körper.» Warum sollten wir also nicht einen Algorithmus diesen Wust an Bestimmungen entwirren lassen?
Eine Art Stockholm-Syndrom?
Andererseits stellt sich die Frage, ob wir wichtige Lebensentscheidungen, mögen sie auch von äusseren Faktoren beeinflusst sein, wirklich derartig outsourcen wollen. In gewisser Weise erinnert die Hingabe, mit der sich Millionen von Internetnutzern errechnen lassen, dass sie tatsächlich Fans der Rolling Stones sind, an das so genannte Stockholm-Syndrom − jenes psychologische Phänomen, bei dem sich Geiseln nach gewisser Zeit mit ihren Geiselnehmern identifizieren oder sich gar in diese verlieben. Die globale Datenkrake hat uns fest im Griff − also werfen wir uns ihr umso inbrünstiger in die Fangarme. Big Data kennt uns besser als wir selbst – also soll Big Data auch für uns entscheiden.
Hinzu kommt: Die Zahl der Antworten, die diese Smartvotes für den Alltag anbieten, ist extrem beschränkt: Wenn es nach ihnen ginge, würden alle Netzbürger in demselben Dutzend westlicher Grossstädte wohnen, in denselben Dienstleistungs- oder Kreativberufen arbeiten, die immergleichen Mainstreambands hören und dazu wahlweise Hugo oder Aperol Spritz trinken. Und das kann doch kein Menschen wollen. Oder? Entscheiden Sie selbst.
P.S. Der Autor hat, natürlich nur aus professionellem Interesse, sich von einem dieser Programme errechnen lassen, welchen Beruf er ergreifen sollte. Das Programm empfahl ihm, Autor zu werden.