Wer sich die Reportage zu den Feierlichkeiten des Schweizerischen Alpenclubs anhört, die Festreden zum 100-jährigen Jubiläum in Interlaken, findet sie wieder, all die Beschwörungen: Die Alpen als den Hort des Schweizertums, granitene Hüter über dem Unverfälschten und auch dem Unverfälschbaren. Das soll die Schweiz ausmachen, das hehre Vaterland, aus alpinen Falten entsprungen.
Ein Land im Zwiespalt
Aus den Ansprachen im Festzelt, damals, vor 50 Jahren, lassen sich die Brüche heraushören, die sich durch das Land zogen. Da war die Rede von der zunehmenden «Mechanisierung der Alpen» mit dem aufkommenden Massentourismus, da wurde appelliert an den «Schutz der Bergbevölkerung», die damals schon massiv aus den Alpen abwanderte. Da war auch die Rede von «Europa» und davon, dass man standhaft bleiben soll und doch – in einem gewissen Masse – offen gegenüber den europäischen Einigungsbestrebungen. Da stand auch die Frauenfrage im Mittelpunkt, unvermittelt. Denn die Frauen, all die vielen tausend aktiven Alpinistinnen, sie waren im SAC noch immer nicht willkommen.
1963, in diesem Jahr kam es mit dem Elysée-Vertrag zwischen dem deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer und dem französischen Präsidenten Charles de Gaulle zur deutsch-französischen Versöhnung. In diesem Jahr stand der weitergehenden Einigung Europas nichts mehr im Wege.
Der Bau der Berliner Mauer hatte die Fronten zwischen Ost und West verschärft, und bei seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche machte der amerikanische Präsident John F. Kennedy deutlich, wie sehr auch die USA auf geeintes Europa zählen würden. Dies um, wie er sagte, einen starken «Partner bei der Sicherung des Friedens» zu haben.
Der Süden, die eben gerade in die Unabhängigkeit entlassenen früheren Kolonien in Afrika, erhoben ihrerseits ihre Stimme. Sie meldeten an, dass sie in der sich neu formierenden Welt ein Wort mitzureden hatten.
Selbstbehauptung und Selbstzweifel
Die Schweiz, wirtschaftlich weit verflochten, aber politisch noch in der Igelstellung der Geistigen Landesverteidigung, suchte in dieser Zeit eine neue Rolle. Kein Zufall, dass in diesem Jahr der Zürcher Germanist Karl Schmid ein umfassendes Werk mit dem Titel «Unbehagen im Kleinstaat» herausbrachte. Er setzte sich mit der Geisteshaltung der Schweizer Literaten auseinander.
Karl Schmid diagnostizierte ein Schwanken zwischen Bewunderung der grossen Mächte in Europa und einer mürrischen Kleingeistigkeit, eine Ambivalenz zwischen patriotischer Selbstbehauptung und nagenden Selbstzweifeln. Jean Rodolphe von Salis, der grosse Essayist und Historiker, widmete dem Buch eine ganze Sendung. Er nutzte die Gelegenheit, um die Lage des Landes schonungslos darzulegen.
Die Schweiz nahm Teil – wenn auch verzögert
Nur ein Jahr später fand die Schweizerische Landesausstellung in Lausanne statt, jene Schau zwischen Modernität und Tradition. 1964 lieferte der Basler Staatsrechtler Max Imboden eine weitere Diagnose zur Schweiz: Das «Helvetische Malaise» zeigte auf, wie sehr die schweizerischen Institutionen, namentlich die Demokratie, hinter der Erfordernissen der Zeit hinterherhinkten.
Und doch wird beim Hören von Sendungen des Radio Beromünsters aus dieser Zeit deutlich: In der Schweiz nahm man rege teil an den geistigen Debatten der Zeit, wenn auch mit einiger Verzögerung.
Das Drama «Der Stellvertreter» von Rolf Hochhuth wurde bei Radio Beromünster in einer mehrstündigen Sendung besprochen. Der Autor setzte sich darin mit der Haltung der katholischen Kirche gegenüber dem Holocaust auseinander. Die Ereignisse in den USA, vor allem die Bewegung der Schwarzen, verfolgte man mit grossem Interesse und Engagement. Und auch der erste Auschwitz-Prozess, der 1963 begann, fand einen prominenten Platz in der Sendung. Man war in der Welt, nicht ausserhalb.
Die Gefühlslage des Landes: unverändert
Ausgerechnet im tragischsten Ereignis jenes Jahres, der Ermordung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy in Dallas am 22. November, zeigte sich der Zwiespalt im Gemengelage der Schweiz jener Zeit besonders deutlich. Die Reaktionen auf seinen Tod waren geprägt von Bestürzung, Trauer, Empörung. Aber in die Reaktionen mischte sich auch etwas anderes: Ein Gefühl von Verlassenheit machte sich breit, als habe man einen beschützenden Vater verloren, einen Schutzpatron. Als habe der innere Pakt zwischen der kleinen Alpenrepublik und ihrer grossen «Sister Republic» USA einen tiefen, schmerzenden Riss bekommen.
Die Schweiz, einmal patriotisch auftrumpfend und selbstbewusst, ein andermal kleinlaut und von grossen Mächten abhängig. Sieht ganz so aus, als habe die Gefühlslage des Landes sich nicht geändert, von 1963 bis heute.