Reinach ist ein ruhiges Dorf im Jahr 1952. Die Region im oberen Wynental ist bekannt für ihre Zigarrenfabriken, geprägt durch kleine Handwerksbetriebe und Bauernhöfe. Im Dorfzentrum steht die Post neben dem Restaurant Central und dem Warenhaus «Au Louvre». Im zweiten Stockwerk des Postgebäudes lebt Versicherungsagent Traugott Huber mit seiner Frau.
In der Nacht auf den 25. Januar hören Huber und seine Frau seltsame Geräusche aus dem Postbüro. Sie sehen auf dem Balkon nach und entdecken ein Auto auf dem Postplatz. Das ist damals in Reinach ein untrügliches Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt. Traugott Huber alarmiert die Polizei. Das ist damals in Reinach der Polizeigefreite Ammann. Er reagiert spontan und – wie sich erst später herausstellen sollte – ziemlich fahrlässig.
Wilde Schiesserei auf dem Dorfplatz
Der Polizist drückt Traugott Huber nämlich eine Waffe in die Hand. Einen vierschüssigen Revolver. Er weist den frierenden Versicherungsagenten an, sich hinter einer Mauer zu verstecken, den Ausgang zu sichern. Der Polizist selber schleicht zum Hintereingang, wo er einen Mann bei Schweissarbeiten am Tresor entdeckt. Plötzlich kommt ein Mann mit Hut aus dem Postgebäude und nähert sich Traugott Huber. Dieser tut, wie ihm geheissen wurde. Er ruft «Halt!». Als der Mann nicht reagiert, schiesst Huber. «Wie ich gezielt habe, weiss ich nicht mehr. Aber auf jeden Fall habe ich nicht getroffen», erzählt Huber Jahrzehnte später einem Radioreporter von SRF. Womit Huber aber wohl nicht rechnete: Der Mann schiesst zurück.
Er zieht eine Maschinenpistole und feuert. Danach überstürzen sich die Ereignisse: Der Polizist kommt ebenfalls auf den Postplatz, auch er schiesst. Die beiden Täter feuern wie wild um sich, gelangen zum Auto, entkommen. Einer von ihnen ist verletzt. Huber und Ammann hingegen bleiben unversehrt. «Es war ein Wunder», sagt der unfreiwillige Hilfspolizist auch Jahre später noch dazu.
Eine neue Dimension des Verbrechens
Am Morgen nach dem versuchten Postraub zählen die aus Aarau angereisten Kantonspolizisten 108 Patronenhülsen im Schnee. Schaufensterscheiben sind in Brüche gegangen. In den Fassaden der Nachbargebäude sind Einschusslöcher zu sehen, 33 sind es allein im Schulhaus. Die Polizei fahndet mit Radio-Aufrufen nach den unbekannten Tätern. Die Lokalzeitung schreibt von einer «weit verzweigten Gangsterbande», die da am Werk sein müsse. Eine andere Zeitung sieht «Gangster vom Chicago-Typus».
Die Schweiz der Nachkriegsjahre scheint in Panik zu geraten. Der ausbleibende Fahndungserfolg der Polizei tut das Seine dazu. Erst Jahre später kommen die Ermittler den Räubern doch noch auf die Spur, durch Denunziation und Zufall. Es waren die beiden Zürcher Ernst Deubelbeiss und Kurt Schürmann.
Sie hatten wenige Wochen vor dem verunglückten Postraub den Zürcher Bankier Armin Bannwart brutal ermordet. Mit denselben Maschinenpistolen, mit denen sie in Reinach wie wild um sich geschossen haben. Gestohlen im Zeughaus Höngg, zusammen mit 9685 Schuss Munition.
«Lebenslänglich» für die Mörder und Räuber
1955 kommen die beiden vor Gericht. Sie werden zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt. Die Presse jubelt über das Urteil für diese «entmenschlichten Verbrecher», die Politik diskutiert derweil über die Wiedereinführung der Todesstrafe. Die beiden «Gangster» kommen erst nach Jahrzehnten wieder frei und führen danach ein unauffälliges Leben in der Anonymität. Sie sterben 2005 und 2006. Auch der letzte Zeuge, Traugott Huber, ist inzwischen verstorben.
Die Schiesserei auf dem Postplatz in Reinach hat «das Verbrechen in die Schweiz gebracht», wie eine Zeitung später titelt. Seither hat es einen solchen Schusswechsel allerdings nie mehr gegeben.
Beitrag zum Thema
Der Schauplatz des Verbrechens übrigens sieht noch heute fast so aus wie 1952: Die Post ist noch da, das Restaurant Central daneben, auch das Schulhaus. Nur das Warenhaus «Au Louvre» ist heute eine Papeterie. Und auch die Einschusslöcher in der Fassade sind bei der letzten Renovation verschwunden.