Ira Glass' Mutter hatte sich immer gewünscht, dass ihr Sohn TV-Star wird. Doch er entschied sich für eine Karriere am Radio. Dem Medium, über das kürzlich einer so treffend twitterte: «Mit dem ganzen Aufwand des Fernsehmachens. Und dem Glamour von Print.»
Es stimmt: Radiomachen ist selten glamourös. Doch das war nicht immer so. Die Macher der Show «A Prairie Home Companion» versammelten sich backstage, wo an ihren Kleidern gezupft und ihre Gesichter gepudert wurden, bevor die Sendung losging.
Damals, in den 1970er- und 1980er-Jahren, als Radio noch gut war, werden Nostalgiker sagen. Lieder und Geschichten, ausgestrahlt an Samstagabenden, vorgetragen live auf der Bühne eines alten Theaters. Verfolgt von Millionen am Radio und 2006 verewigt in einem Hollywood-Film von Robert Altman («Robert Altman's Last Radio Show»).
Winzige Geschichten und grosse Dramen
Ira Glass, 56, brachte letzten Sommer diesen Glamour zurück ins Radio. Berühmt wurde Glass durch seine Geschichten, die er seit 20 Jahren jede Woche erzählt und erzählen lässt. «This American Life» heisst seine Sendung, die sonntags von hunderten Sendern in den USA ausgestrahlt wird.
Es sind beinharte, investigative oder erklärende Geschichten. Aber auch lustige und traurige, und vor allem: aussergewöhnliche Geschichten von ganz gewöhnlichen Amerikanern.
Ira Glass und ein Team von rund einem Dutzend Reportern machen winzige Geschichten zu grossen Dramen, ganz ohne dass man es merkt: Glass erzählt die Geschichten mit der in Europa so fremden Lockerheit, bei der dennoch kein Wort zu viel ist. Mit einer zuverlässig etwas erkältet klingenden Stimme und dem Maximum an Intimität. Man kann nicht weghören. Woche für Woche.
Vom dunklen Radiostudio auf die grelle Bühne
An diesem Sommerabend ist alles etwas anders. Ira Glass steht nicht im dunklen Radiostudio in Manhattan, sondern auf einer der schönsten Bühnen New Yorks, der Brooklyn Academy of Music.
Links zum Thema
Während der zweistündigen Show entstehen auf der Bühne die Bilder, die gutes Radio bei Zuhörern im Kopf entstehen lässt. Die (wahre) Geschichte einer Kinderbuch-Erzählerin, die sich versehentlich in einem Schrank einsperrt, verwandelt sich plötzlich in eine Mini-Oper – komponiert von Philip Glass, dem berühmten Komponisten (kein Zufall, die Beiden sind Cousins).
Die Geschichte eines Teenagers, der sich in eine Undercover-Polizistin verliebt und von ihr verhaftet wird, wird zum Musical. Unvergessliche Geschichten wie diese gibt es jede Woche im Radio. Immer aus der Sicht von Menschen, die etwas Aussergewöhnliches erleben oder fühlen oder sehen.
Stets im Zentrum: Ira Glass
Die Kunst wenden Glass und sein Team auch auf komplexe Themen an: Als 2008 die Finanzkrise die Welt erschütterte, sendete «This American Life» eine Spezialsendung, die den Hergang der Krise erklärte. «The Giant Pool of Money» hiess die Sendung und ist eine der besten aus 20 Jahren. Sie gewann unzählige Preise und gebar eine eigene Sendung: «Planet Money», heute eine Wirtschaftssendung des öffentlichen Radios in den USA.
Doch dabei ist es nicht geblieben. Aus «This American Life» ist auch das Start-up «Gimlet Media», ein Podcast-Netzwerk, hervorgegangen. Und «Serial» – der mit durchschnittlich sechs Millionen Downloads pro Episode der erfolgreichste Podcast der Welt
Und im Zentrum – manchmal lauter, manchmal leiser – steht Ira Glass.
Nostalgie wird ihm sicher sein
Beiträge zum Thema
Das war alles andere als klar, als Glass 1995 anfing. Damals, als seine Mutter ihm noch sagte, dass er ins Fernsehen soll, er sehe doch aus wie Hugh Grant.
In der ersten Sendung sprach er bereits von Nostalgie. Dem «tief menschlichen Bedürfnis» zu sagen, dass früher alles besser war. Sich an damals zu erinnern, bevor etwas cool war. Diese Nostalgie wird Glass dereinst sicher sein.
Hört er mal auf, werden die Nostalgiker zurückschauen und sich zurücksehnen. An damals, als Radio noch gut war.