Marcel Lichtenstein ist Naturforscher und wissenschaftlicher Fremdenführer. Der 42-jährige Costa Ricaner steht auf einem steinigen Küstenhang in Hannah Bay auf Livingston Island. Das 1819 entdeckte Eiland liegt etwa 100 Kilometer vor der Westantarktis. Lichtenstein zeigt auf eine Gruppe grunzender See-Elefanten.
Der Tourismus hat stark zugenommen
Um ihn drängt sich ein Häuflein Menschen in dicken, knallroten Polarparkas und staunt über die tonnenschweren Meeressäuger. Der antarktische Kontinent wird bei Touristen immer beliebter. Etwa 40‘000 pro Jahr leisten sich das ebenso exklusive wie teure Vergnügen, mit Kreuzfahrtschiffen diese abgeschiedene Welt zu besuchen. Tendenz steigend. Ist das gut für das Ökosystem am Ende der Welt?
«Der Tourismus ist aus unserer Sicht von zwei Seiten zu betrachten: Zum einen freuen wir uns über das Interesse an der Szenerie und dem Naturspektakel», sagt Tim Packeiser, Meeresschutzexperte beim World Wide Fund For Nature (WWF) in Hamburg. «Allerdings hat der Tourismus in den letzten Jahren stark zugenommen. Und da treten Fragen auf: Wie werden die Reisen organisiert? Welche Vorschriften gibt es für die Besucher?»
Strenge Regeln
Seit der Jahrtausendwende hat die Internationale Vereinigung der Antarktis Reiseveranstalter, kurz IAATO, die Anforderungen für das Betreten der Antarktis erheblich verschärft. Die IAATO agiert dabei vor Ort völlig autark, da die Antarktis nach dem Völkerrecht niemandem gehört. Das heisst auch, dass keinerlei staatliche Kontrolle existiert.
Seit 2006 dürfen Schiffe mit über 500 Passagieren keine Landgänge mehr durchführen. Es können nur noch Motorschiffe mit geringem Tiefgang und maximal 200 Passagieren an Bord bis zu 100 Touristen gleichzeitig an Land bringen. Und das auch nur an 160 festgelegten Landeplätzen. So präzise und scharf sind die Regularien. Zurzeit sind nur 25 Kreuzfahrtschiffe bei der IAATO für Landgänge registriert.
Das Geschäft mit der Natur
Penibel müssen die Reiseführer protokollieren, was ihnen während jeder Antarktis-Expedition auffällt: Kommt ein Tier durch einen Menschen zu Schaden? Hat sich eine Pinguin-Population verringert? Wie viele und welche Wale wurden gesichtet? Verändern sich Gletscher? Jeder noch so kleine Vorfall wird in ihren IAATO-Logbüchern vermerkt.
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Aber für Rafael Sané, Expeditionsleiter an Bord eines Kreuzfahrtschiffs, ist der Tourismus nicht die Hauptbedrohung für die Antarktis. Er sieht die Risiken woanders: «Die Versuchung, die Bodenschätze auszubeuten, ist die weit grössere Bedrohung. Kohle und andere wertvolle Rohstoffe wie Öl und Gas unter dem 4‘000 Meter dicken Eispanzer im Meer sind eine grosse Versuchung. Der Tourismus mit all seinen Regularien ist demgegenüber durchaus nachhaltig.»
Lücken im Antarktisvertrag
Zwar wurde im Antarktisvertrag von 1959 festgeschrieben, dass auf dem antarktischen Festland nur zu Forschungszwecken gebohrt werden darf. Das verhindert bis heute die kommerzielle Ausbeutung der Ressourcen. Aber für das riesige Meer, das den sechsten Kontinent umgibt, gibt es keinen vergleichbaren Schutz.
«Die aktuell grösste Bedrohung ist aus unserer Sicht die kommerzielle Fischerei», erklärt Meeresschutzexperte Tim Packeiser. «Zum einen geht es um verschiedene Fischarten, die bedroht sind. Zum anderen gefährdet der massive Fang von Krill das gesamte Ökosystem». Die Krebstiere sind fundamentaler Teil der Nahrungskette: Ohne Krill keine Wale, keine Robben, Pinguine und Seevögel.
Man wird zum Bürger eines Planeten
Die Chance bestand, mit 2,4 Millionen Quadratkilometern in der Rosssee und 1,6 Millionen Quadratkilometern im ostantarktischen Südpolarmeer die grösste Meeresschutzzone der Welt zu schaffen. Aber das Projekt scheiterte kläglich. Für die «Kommission für die Erhaltung der lebendigen Meeresschätze in der Antarktis» (CCAMLR) war dies das erklärte Ziel der Konferenz in der norddeutschen Hafenstadt Bremerhaven im Juli 2013. Doch Russland und die Ukraine – beides Nationen, die erhebliche Mengen Krill in antarktischen Gewässern fischen und damals noch nicht verfeindet waren – liessen die Verhandlungen scheitern.
Der Forscher und Reiseleiter Marcel Lichtenstein ist dennoch zuversichtlich: «Das hier ist uns Menschen so fremdartig. Hier sind wir nicht länger Bürger eines Landes. Wir sind Bürger eines Planeten. Man verliert hier seine Nationalität. Und solange kein Land dem anderen etwas gönnt, wird sich zumindest am Status Quo der Antarktis nichts ändern. Solange bleibt alles, wie es ist.» So werden auch in Zukunft vor allem Touristen vorsichtig ihren Fuss auf den eisigen Kontinent setzen. Und Pinguine und See-Elefanten werden wie bisher mit ihnen umgehen: sie einfach ignorieren.