Die Müdigkeit, die Gleichgewichtsstörungen, die Schwindelanfälle – damit hätte Reto Gloor leben können. Aber dann musste er sich eingestehen, dass er nicht mehr in der Lage war, einen geraden Strich zu zeichnen – und das empfand er als eine weit existenziellere Bedrohung. Schliesslich war das Comic-Zeichnen, wie er in «Das Karma-Problem» mehrmals betont, seit frühester Jugend ein wichtiger Teil seiner Identität.
Ein Alltag mit der Krankheit
Vor fünf Jahren brachten Untersuchungen im Spital zu Tage: Reto Gloor leidet an Multipler Sklerose. Nach dem ersten Schock rappelte er sich jedoch wieder auf – und er begann, seine Krankheitsgeschichte aufzuzeichnen. Mit dem Computer als Ersatz für Feder und Papier. Und so nimmt er uns mit auf eine Spirale in die Tiefe seiner Krankheit – und seines Alltags mit dieser Krankheit.
«Das Karma-Problem» unterscheidet sich von vielen Krankheitsberichten dadurch, dass Gloor seine Leidensgeschichte nicht nach überstandenem Kampf erzählt – er lässt uns in Echtzeit daran teilhaben.
Verblüffende Nüchternheit
Er beschreibt seine Zweifel an den Diagnosen und seine Selbstlügen, er schildert sein naives Vertrauen in Hellseher und andere Scharlatane, er schildert die Tücken der psychischen Bewältigung einer unheilbaren Krankheit – und er lässt uns nachvollziehen, wie sein körperlicher Zustand sich verschlechtert: Bald braucht er einen Gehstock, und ein Therapeut erwähnt vorsorglich schon mal den Rollstuhl.
Dieses existenzielle Drama erzählt Gloor mit verblüffender Nüchternheit. Natürlich spürt man seine Verzweiflung, und dann und wann bricht sie auch aus ihm heraus – aber meistens steckt sie im weissen Raum zwischen den einzelnen Bildern und nicht in den Zeichnungen selber.
Zu sachlich und zurückhaltend?
Zu diesem Eindruck trägt die stilisierte Sachlichkeit der am Computer entstandenen Bildsprache bei: die sauberen Linien und kühlen grauen Flächen, die so anders sind als Gloors expressives Schwarzweiss von früher.
Streckenweise ist «Das Karma-Problem» vielleicht sogar zu sachlich und zurückhaltend. Seine Freundin beispielsweise nennt er immer «meine Gefährtin», und abgesehen von ein paar Andeutungen geht er nicht näher auf die Auswirkung der Krankheit auf den Beziehungsalltag ein.
Durch die Krankheit neu erfunden
Dafür fehlte ihm vielleicht tatsächlich die Distanz. «Das Karma-Problem» ist ein in mehrfacher Hinsicht erstaunlicher Comic. Zum einen vermittelt er Einiges über eine Krankheit, die wir alle kennen, ohne sie zu verstehen. Zum anderen ist «Das Karma-Problem» trotz der Unheilbarkeit der Multiplen Sklerose nicht hoffnungslos:
Letztlich schildert Gloor nämlich, wie er sich wegen der Krankheit als Zeichner neu erfand. Und wie er – nach bald 20 Jahren Funkstille als Comic-Zeichner – endlich wieder einen Comic geschaffen hat.
Sendung: SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 16.9.2015, 8.20 Uhr