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Ein Grenzwächter steht neben einem vorbeifahrenden, weissen Auto.
Legende: Zöllner kontrollieren Einreisende bei Chiasso. Keystone/Gaetan Bally

Terror in Europa «Die Politik der Europäer wird der Bedrohung nicht gerecht»

«Der IS sucht nach Bruchlinien in den Gesellschaften, um diese konkret anzugreifen», sagt Islamexperte Guido Steinberg.

SRF: Der Terrorismus ist heute eine globale Wirklichkeit. Kaum jemand kann sich ihm noch entziehen. Ist der Terrorismus eine Erscheinung unseres Zeitalters?

Guido Steinberg: Ja, der Terrorismus ist ein modernes Phänomen, das erstmals zur Zeit der ersten Globalisierung Ende des 19. Jahrhunderts und als weltpolitisches Thema erneut in den 1960er-Jahren auftauchte.

Zur Person

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Legende: imago/müller-stauffenberg

Guido Steinberg ist Islamwissenschaftler und Experte für islamischen Terrorismus. Er forscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Sie berät den Bundestag und die Bundesregierung in Fragen der Aussen- und Sicherheitspolitik.

Wie hat der Terrorismus sich in dieser Zeit gewandelt?

Das Hauptmerkmal liegt heute in seiner Transnationalisierung. Der neuere Terrorismus ist geprägt davon, dass seine Vertreter nicht mehr wie im Kalten Krieg unter der Kontrolle von Staaten stehen. Terroristen müssen sich häufig selbst organisieren und finanzieren.

Um dennoch effektive und schlagkräftige Organisationen aufzubauen, werden Kontakte über Ländergrenzen hinweg geknüpft. Der Gipfelpunkt davon war die Gründung des «Islamischen Staates» im Juni 2014. Das zeigt, wie stark Terroristen zumindest in Teilen der arabischen und islamischen Welt geworden sind.

Sehen Sie in diesem Erstarkungsprozess die Medien als Handlanger?

Leider sind Medien der notwendige Verstärker für die Terroristen, da diese mit ihren Taten Botschaften übermitteln wollen, die von den Medien transportiert werden. Seriöse Medien überlegen, wo die Grenze liegt, zwischen notwendiger Berichterstattung und der Förderung dieses terroristischen Kalküls.

Selbstverständlich muss berichtet werden. Ob die Bilder aber bewegt sein müssen, oder auch Standbilder reichen, diese Entscheidung muss jenseits der Leserzahlen gefällt werden.

Ein Zoll: Grenzwächter entladen Sachen aus einem weissen Auto.
Legende: An der Grenze in Chiasso. KEYSTONE/Gaetan Bally

Sind technische Überwachungsmittel wie Gesichtserkennung die richtige Prävention für die Zukunft?

Im Jahre 2017 von Prävention zu reden ist problematisch. Es braucht primär repressive Massnahmen wie effektive Grenzkontrollen und funktionierende, effiziente Nachrichtendienste. Die Ausreise von tausenden Europäern wäre zu verhindern gewesen, wenn unsere Nachrichtendienste und die Polizei gut funktioniert hätten.

Die Wähler werden die Politiker dazu zwingen, die Grenzen der EU zu überwachen.

Früher oder später werden die Wähler die Politiker auch dazu zwingen, die Grenzen der EU oder der Nationalstaaten effektiv zu überwachen. Gesichtserkennung im öffentlichen Raum halte ich da für nebensächlich.

Ist es nicht zynisch, die Prävention so zu schmälern?

Es gibt durchaus Präventionsprogramme, die sinnvoll arbeiten. Das Problem ist aber, dass die islamistischen Terroristen einer heterogenen Gruppierung angehören. Es gibt kein klares Profil.

Seit 2001 ist die Politik der Europäer der Bedrohung nie gerecht geworden.

Zynisch wäre es, so lange zu warten, bis das Problem nicht mehr kontrollierbar ist. Und dann Prävention, statt der dringend notwendigen repressiven Massnahmen zu fordern. Seit 2001 ist die Politik der Europäer der Bedrohung nie gerecht geworden.

Zoll in Chiasso.
Legende: Ein hell erleuchteter Zoll in Chiasso. KEYSTONE/Gaetan Bally

Haben Sie ein Beispiel?

Deutschland hätte etwa in Syrien am Kampf gegen den IS teilnehmen sollen, nicht nur symbolisch. Noch wichtiger ist, unsere Sicherheitsbehörden in die Lage zu versetzen, kryptierte Kommunikation zu überwachen.

Sicherheitsbehörden müssen kryptierte Kommunikation überwachen können.

Seit über zwei Jahren ist bekannt, dass IS-Mitglieder über verschlüsselte Dienste wie dem Messaging-Dienst «Telegram» kommunizieren. Das Problem ist bis heute nicht gelöst. Der Staat muss hier rechtliche, technische und personelle Voraussetzungen schaffen.

Wohin bringt uns der Terrorismus als Gesellschaft? Ist er unsere Zukunft?

Ich glaube, er ist Teil einer globalisierten Welt, in der autoritäre Staaten gewalttätigen Widerstand provozieren und religiöse Fanatiker einen Kulturkonflikt provozieren wollen. Die grosse Gefahr liegt aber nicht in solchen Gruppierungen, sondern in unseren Reaktionen.

Denn der IS sucht nach Bruchlinien in den Gesellschaften, um diese konkret anzugreifen. Wenn es Islamisten also gelingt, ihre Gegner so zu provozieren, dass sie überreagieren und Muslime zu Opfern von Gegengewalt werden, wird es gefährlich.

Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen der Schweiz und dem Terrorismus?

Da der islamistische Terrorismus der Gegenwart meines Erachtens keine Reaktion auf unsere Aussenpolitik ist, glaube ich nicht, dass die Schweiz viel weniger gefährdet ist als Deutschland, Frankreich oder Grossbritannien.

Der IS wird von einer Ideologie angetrieben, die keine feinen Unterschiede zwischen der neutralen Schweiz und dem «Kreuzzüglerland» Deutschland macht. Der IS hat sich Europa zum Ziel auserkoren. Auch in der Schweiz finden sich zahlreiche Rückkehrer und Flüchtlinge, die mit dem IS sympathisieren, ihn unterstützten oder ihm gar angehören.

Das Gespräch führte Olivia Röllin.

Der Fotograf Gaetan Bally

Während seiner Fotografen-Lehre in Sion fotografierte der 1973 geborene Gaëtan Bally für die Zeitungen «Le Nouvelliste», «Le Nouveau Quotidien» und die Bildagentur Reuters. Später war er Fotograf bei der «Neuen Zürcher Zeitung», seit 2002 ist Bally Themenfotograf bei der Bildagentur Keystone in Zürich.
Mehr Bilder gibt's auf der Homepage des Fotografen.

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