- Die Schweiz war während des Ersten Weltkriegs ein Zufluchtsort für russische Oppositionelle wie Lenin und Trotzki.
- Die Anwesenheit der Revolutionäre blieb den Schweizer Behörden lange verborgen.
- Die Ideen der russischen Exilanten inspirierten die gewerkschaftlich gesinnte Jugendbewegung.
Namhafte russische Oppositionelle wie Lenin und Leo Trotzki hielten sich vor der Februarrevolution 1917 in der Schweiz auf, die ihnen politisches Asyl gewährte. Lenin wohnte von 1916 bis im April 1917 mit seiner Frau in einem Zimmer an der Spiegelgasse in Zürich und hielt sich mit Redenschreiben und Auftragsarbeiten über Wasser.
Freie Schweiz, spiessige Schweiz
Die russische Exil-Gemeinde war nicht nur in Zürich, sondern auch in Genf und Bern zu Hause. Lenin bewunderte die Schweiz einerseits für ihre politischen Freiheiten, ihren Föderalismus und ihre bewaffnete Milizarmee.
Anderseits kritisierte er das Land als «spiessig». So mokierte er sich über die «demokratische» Gepflogenheit, dass in Bern selbst Frauen von hochrangigen Politikern vor ihrem Heim die Teppiche ausklopften.
Damit Italiener nicht den Streik brechen
Zum Kreis der führenden politischen Köpfe gehörte damals auch die russisch-italienische Kommunistin Angelica Balabanowa. Sie sollte die italienischen Migranten, die damals in die Schweiz kamen, auf den richtigen Weg bringen.
30 Jahre später, 1948, erzählte Balabanowa in der Radio-Sendung «Echo der Zeit»: «Wir bemühten uns, die italienischen Arbeiter gewerkschaftlich und politisch aufzuklären und zu organisieren, damit sie nicht durch Streikbrechertum oder durch einen anderen Mangel an Solidarität den Schweizer Arbeitern in den Rücken fallen.»
Lenin gab Hoffnung
Der kleine internationale revolutionäre Kreis um Lenin und Trotzki in der Schweiz blieb von den Behörden lange unbemerkt. Bei der gewerkschaftlich gesinnten Jugendbewegung aber stiessen die Revolutionäre auf offene Ohren.
Anna Klawa-Morf, die damals in der Jugendbewegung engagiert war, erinnerte sich später an Lenins verheissungsvolle Reden. Er habe klar gemacht, dass die radikale Jugend das Zeug dazu hätte, Arbeiterinnen und Arbeiter dazu zu bewegen, sozialdemokratisch zu stimmen, um die Verhältnisse zu ändern und den Krieg zu beenden.
Kutschenreise rebellischer «Vogelkundler»
Auch etablierte Schweizer Sozialdemokraten wie Robert Grimm unterstützten die revolutionäre russische Exil-Gemeinde. Er organisierte im September 1915 für sie die internationale Friedenskonferenz im bernischen Zimmerwald.
Neben Lenin und Leo Trotzki nahm auch Angelica Balabanowa teil. Grimm liess die prominenten Oppositionellen in vier Wagen von Bern nach Zimmerwald kutschieren.
Im Gasthaus «Beau Séjour» konnten sie unerkannt Logis beziehen. Grimm gab die illustre internationale Gästeschar kurzerhand als Vogelkundeverein aus.
Beendet den Krieg!
So konnte sich die Sozialistische Internationale ganz im Stillen neu organisieren. Das Manifest, in dem sie zur Beendigung des Kriegs und zu einem Frieden «ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen» aufriefen, machte sie dann allerdings öffentlich bekannt.
Balabanowa wurde von Lenin und Trotzki zur ersten Sekretärin der Sozialistischen Internationalen ernannt. Zu einer Zeit, wie sie sagte, «in der man hoffen konnte, eine echte Internationale, die die Völker verbindet, gründen zu können».
Ein Hoffnungsfunke erlischt
Gross waren so die Hoffnungen am Vorabend der Russischen Revolution. Nachdem der russische Zar Nikolai II. in der Februarrevolution 1917 gestürzt worden war, versprach die neue provisorische Regierung eine Amnestie für politisch Verfolgte.
Das bewog Lenin und weitere Oppositionelle dazu, Zürich zu verlassen. Er bestieg am 9. April 1917 im Zürcher Hauptbahnhof den Zug nach Petrograd. Auch Balabanowa verliess die Schweiz, um auf der Seite des russischen Volks für die Revolution zu kämpfen.
Doch sie distanzierte sich bald davon und setzte sich nach Paris und Übersee ab: «Als abzusehen war, welche Mittel die Bolschewisten gebrauchten und was eigentlich ihr Ziel war – die Spaltung der Arbeiterbewegung –, habe ich mich von der Bewegung entfernt und erklärt, ich würde das Land verlassen.»
Sendung: Kontext, 17. März 2017, 9 Uhr.