Die Tage beginnen früh im Shantivanam Ashram: Die Tempelglocke weckt Bewohner und Besucher um 5 Uhr morgens. Man steht auf, um sich für eine Stunde zur Meditation hinzusetzen. Entweder im eigenen Hüttchen, Zimmer oder mit anderen im Tempel. Um halb sieben versammelt sich die ganze Gemeinschaft zum Morgengebet im Tempel.
Wahrheit suchen, wo Autos donnern
Die Anlage ist weitläufig unter tropischen Bäumen angelegt, unweit eines Flusses. Zum Ashram gehört ein kleiner Bauernhof, mit Kühen, Hühnern – und einer eigenen Biogasproduktion. Es ist friedlich hier, auch wenn seit drei Jahren Autos auf der Schnellstrasse wenige Meter neben dem Ashram vorbeidonnern.
Zum Zeitpunkt meines Besuches besteht die Gemeinschaft aus rund zehn anderen Besucherinnen und Besuchern, gleichvielen Mönchen und ein paar Nonnen, die in einem eigenen Ashram in der Nähe leben. «Wir empfangen alle, egal welche Religion sie haben», sagt der Prior. Auch Atheisten. Einzige Voraussetzung ist, dass man so etwas wie Wahrheit oder Sinn des Lebens sucht.
Wenn Traditionen verschmelzen
Shantivanam ist kein gewöhnlicher Ashram: Hier wird sowohl die christliche Tradition eines Mönchslebens gepflegt, als auch die hinduistische Lebensweise der Sannyasin – der Wander- und Bettelmönche des Hinduismus. Die Mönche tragen den Kavi, das saffranfarbene Gewand der Sannyasin. Dazu eine Kurta, ein langes Baumwollhemd, weiss oder orange.
Auch wenn es um die hier gelebte Spiritualität geht, verschmelzen die Traditionen von Christentum und Hinduismus. Das geht auf die Gründer dieses Ashrams zurück, die beiden Benediktinermönche Jules Monchanin und Henri le Saux aus Frankreich.
In Indien suchen, was zuhause fehlt
Sie kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Indien, um die Menschen zum Christentum zu bekehren. Doch je länger sie im Land waren, desto mehr merkten sie, dass sie von den reichen Traditionen hier lernen konnten.
1950 bauten sie am Platz des heutigen Ashram einfache Hütten und begannen, eine spezifisch indische Version ihres Glaubens zu erarbeiten. 1968 machte Bede Griffiths, ein englischer Benediktiner, der den Ashram auch im Westen bekannt. Seither pilgern jedes Jahr hunderte von Menschen hierher, in der Hoffnung, etwas zu finden, was ihnen zuhause fehlt.
Ohne Schnickschnack mit viel Zwiebeln
Die Lebensweise hat sich seit der Anfangszeit kaum verändert. Sie wird so einfach wie möglich gehalten: Die Mönche essen mit der rechten Hand, meist am Boden sitzend. Jeder und jede wäscht das benutzte Geschirr selber ab.
Auch sonst sind die Ashram-Besucher zur Mithilfe aufgefordert. Nach dem Morgengebet und dem Frühstück wird Gemüse geschnippelt. Da die Mahlzeiten ausschliesslich aus Gemüse und Reis bestehen, gibt das Rüsten viel zu tun: Ich habe so viele Zwiebeln klein geschnitten, wie in meinem ganzen Leben zuvor nicht.
In der Monotonie entspannen
Dieser monotone, stets gleiche Tagesablauf mit drei Gebetszeiten und zwei Stunden Meditation pro Tag soll das kontemplative Leben unterstützen. Nach wenigen Tagen in diesem Rhythmus ist klar, warum das funktioniert: Man muss keine Mahlzeiten oder Alltagsgeschichten planen. Man widmet sich ganz dem Beten, Meditieren und Singen, aber auch der Stille und Zurückgezogenheit.
Ich verlasse nach dem letzten Abendgebet den Ashram, tief entspannt und etwas wehmütig darüber, diesen friedlichen Fleck Erde hinter mir zu lassen.