«Grau ist alle Theorie», sagt der Mephisto in Goethes «Faust». Und er scheint damit recht zu behalten. Angesichts der bunten Bilder, des News-Flashs und dem schnellen Kick, den wir uns heute im Internet holen können. Die philosophische Theorie scheint heute nur noch in Universitäten eine Rolle zu spielen oder eingedampft in Büchlein wie «Seneca für Gestresste». Oder ist das eine Fehleinschätzung?
Süchtige Theorieleser
Sicher ist, dass die philosophische Theorie zwischen 1960 und 1990 einmal fürs grosse Ganze stand: Bücher wie Adornos «Minima Moralia» erreichten damals Auflagen von weit mehr als 100'000 Exemplaren. Theoretiker wie der französische Philosoph Jacques Derrida tourten wie Rockstars um die Welt. Wie lässt sich diese Theorieeuphorie erklären? Welche Hoffnungen waren damit verbunden? Und was ist damit passiert?
Antworten darauf gibt Philipp Felsch, ein junger Historiker aus Berlin, der in einem Buch rekonstruiert hat, wie in den 1950er-Jahren Studenten mit den «Minima Moralia» von Adorno angefixt und zu «süchtigen» Theorielesern wurden. Aber was ist das eigentlich für ein Buch, das eine solche Wirkung entfalten konnte? «Es ist eine Sammlung kurzer Aphorismen, die man nicht von vorne nach hinten durchliest, in denen man vielmehr blättert und immer wieder nachliest», erklärt Felsch.
Attacke der Polizei auf Foucault
Philosophische Theorie wird von nun als etwas Existenzielles verstanden. Mit Adorno hört man Musik, mit ihm geht man ins Kino. Das alles ist heute nicht vorbei. Wie alle Geschichten ist auch die der Theorie eine des Wandels und der Brüche.
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Von einem Wendepunkt erzählt Daniel Defert, der frühere Lebensgefährte von Michel Foucault. Als Defert und Foucault im Dezember 1977 bei einem Berlin-Besuch zusammen das Hotel verlassen, sehen sie sich von schwerbewaffneten Polizisten umstellt. «Wir wurden gegen die Mauer gedrückt. Foucault wollte sich wehren, wurde aber gerade noch rechtzeitig gewarnt, dass die deutsche Polizei sofort schiessen werde, wenn er eine falsche Bewegung macht.» Wie sich herausstellte, wurde der Kreis um Foucault mit Sympathisanten der RAF verwechselt.
Nach den Ereignissen vom Herbst 1977 «war ‹Theorie› nicht mehr dasselbe wie davor», liest man dazu bei Philipp Felsch. «Der theoretisch unterfütterte Terrorismus der RAF ist eine Option, die das Projekt der Revolution letztendlich desavouiert hat.» Die Linke zerbricht in eine Vielzahl von Splittergruppen: von den Ökos über die Emanzen bis hin zu den Landkommunen.
Neue Rolle bei Harald Szeemann
Das ist bis heute so geblieben: Unsere Gesellschaft hat sich in Interessengruppen ausdifferenziert, die bei unterschiedlichen Theoretikern Orientierung suchen. Die Feministen lesen Judith Butler, die Hedonisten orientieren sich am Kulturphilosophen Robert Pfaller, erschöpfte Büroarbeiter holen sich Widerstandskraft in «Müdigkeitsgesellschaft» von Byung-Chul Han.
Die Welt als Universum der Subkulturen: Im Frühjahr 1979 erhalten sie alle nochmals einen Spiegel vorgehalten, als der Schweizer Kunstkurator Harald Szeemann seine «Monte Verità»-Ausstellung in Berlin zeigt.
Gewidmet ist sie den Esoterikern, Künstlern und Anarchisten, die in den Jahren nach 1900 den Berg am Lago Maggiore in die erste Aussteigerkolonie verwandelten.
Die Kunst als Labor der Theorie
Für die Linksalternativen der späten 70er-Jahre wirkt die Ausstellung wie ein historischer Zerrspiegel: «Wir haben in dem, was da in Ascona geschah, in ein schallendes Gelächter über uns selbst ausbrechen müssen», schreiben Heidi Paris und Peter Gente in einem Brief an Michel Foucault.
Mit Szeemanns Monte-Verità-Ausstellung wird die Kunst als eine Option für die Theorie entdeckt. «Man zieht sich zurück in kleine Diskursuniversen, die verspielt sind, die ästhetisch sind. Die eben in der Kunst besonders gut überleben können», erklärt Philipp Felsch, «nicht zuletzt auch aus ökonomischen Gründen».
Und das ist bis heute so geblieben: Die Kunst wird zum Labor der Theorie. So etwa beim Theatermacher René Pollesch, der in seinen Stücken die Theorie als «Sehhilfen für die Wirklichkeit» versteht. Und die wirkt noch immer. Man muss sie nur benutzen.