«Die Schweiz», sagt eine Stimme bedeutungsschwanger aus dem Off. «Hervorgegangen aus Konflikten und Bürgerkriegen. Geeint und friedlich erst nach Jahrhunderten. Wer sind die Menschen, die unsere Geschichte geprägt haben?», fragt die Stimme weiter und es wird klar: Es geht um Menschen in dieser Doku-Serie. Natürlich. Jede gute Geschichte braucht ihre Protagonisten, auch wenn es um die tatsächliche Geschichte geht.
Realität versus Doku-Fiction
Doch wie real sind diese Menschen und ihre Geschichten, die uns das Fernsehen erzählt? Mittelalter-Spezialist Lucas Burkart von der Universität Basel hat sich die erste Folge von «Die Schweizer» angesehen. Thema ist dort die Schlacht am Morgarten und die Figur von Werner Stauffacher.
«Dass man Geschichte anhand von Figuren erzählt, ist wahrscheinlich richtig und grundsätzlich nicht problematisch», so Burkart. «Allerdings sind Personen immer nur eine Möglichkeit unter vielen, Geschichte darzustellen. Der französische Historiker Fernand Braudel hat einmal gesagt, Ereignisse und einzelne Akteure solcher Ereignisse sind wie Glühwürmchen.» Glühwürmchen leuchten auf, weshalb wir sie überhaupt erst wahrnehmen, aber sie beleuchten eben auch nur einen kleinen Teil der historischen Zusammenhänge.
Verschiedene Experten, verschiedene Meinungen
Ein weiteres Problem, womit diese erste Folge kämpfen muss, liegt ein bisschen in der Natur der Sache: Die Folge spielt im frühen 14. Jahrhundert, also in einer Zeit, über die es nur sehr unsichere historische Quellen gibt. Die Macher lassen in der Folge deshalb auch mehrere Wissenschaftler zu Wort kommen, die verschiedene Blickwinkel auf die Ereignisse haben – und auch verschiedene Meinungen.
«Das finde ich ausgesprochen gut, dass man das so gemacht hat», lobt Burkart. «Das macht ja die Geschichtswissenschaft aus. Es gibt widersprüchliche Meinungen, und die Wissenschaft lebt davon, diese Meinungen auszutauschen.»
Die Legende von Morgarten
Konkret geht es um die Schlacht am Morgarten im Jahr 1315. «Hier, am Morgarten, wo die Schwyzer und ihre Verbündeten die Habsburger vernichtend geschlagen haben sollen. War diese legendäre Schlacht entscheidend für die Geburt der Schweiz? Was ist hier wirklich passiert?», fragt die bedeutungschwangere Stimme. «Kann Werner Stauffacher, der sagenhafte Landammann, das Leben seiner Leute retten?»
Ja, kann er – so will es zumindest die Legende. Viel weiss man über diese (angebliche) Schlacht nämlich nicht. Es gibt es nur wenige Sätze in einigen Chroniken, geschrieben von Leuten, die nicht dabei waren. Die erste Chronik, die diese Schlacht überhaupt erwähnt, entstand zu einem viel späteren Zeitpunkt. Ihr Autor, Johann von Winterthur, war zur Zeit der Schlacht erst 14 Jahre alt gewesen.
Was ist real, was Fiktion?
«Ob es die Schlacht gegeben hat oder nicht, dazu möchte ich mich nicht äussern», sagt auch konsequenterweise ein Historiker in der TV-Doku. «Wahrscheinlich hat es was gegeben. Aber sicher nicht die grandiose Schlacht, die später in den Chroniken beschrieben wurde.»
Ein anderer Experte hingegen meint: «Man muss bei den historisch verbürgten Quellen von Abweichungen und Ausschmückungen rechnen. Aber im Kern kann man von einem kolossalen Hinterhalt ausgehen.» Ein kolossaler Hinterhalt, in den die Eidgenossen die Habsburger gelockt haben sollen. Aber eben genau dies sei alles andere als belegt, kritisiert Spezialist Lucas Burkart: «Das scheint mir nicht überzeugend und nicht stimmig. Am Ende ist einfach nicht mehr klar: Was ist Doku und was ist Fiktion?»