Für viele Schweizerinnern und Schweizer gehört der Fernsehkrimi «Tatort» zum Wochenende wie der Senf zur Wurst. Sonntag für Sonntag sitzen sie vor dem Fernseher, obwohl die Handlung ständig die gleiche ist: Mord, Ermittlung, Auflösung des Falls. Und meist siegt am Ende das Gute über das Böse.
Eine standardisierte Produktionsweise ganz im Sinne der «Kulturindustrie» nach dem Philosophen Adorno: Die Filmstars sind austauschbar, Motive und Pointen immer gleich. Mit Theodor W. Adorno beginnt denn auch der erste Essay im Sammelband «Der Tatort und die Philosophie». Er versteht sich als Einführung in die Philosophie des 20. und frühen 21. Jahrhunderts.
Grundlegende Fragen unserer Existenz
Doch ist die Fernsehreihe «Tatort» tatsächlich mehr als Unterhaltung? Ja, findet der Philosoph Wolfram Eilenberger. Denn die älteste Krimireihe im deutschen Fernsehen werfe grundlegende Fragen der menschlichen Existenz auf.
Der Herausgeber des Buches sieht darin gar den Anlass zum Philosophieren: «Es geht dabei ja durchaus nicht nur um Fragen nach Täter oder Tod, sondern grundlegender noch, um die zentralen Begriffe unseres Zusammenlebens: Schuld, Verantwortung, Gerechtigkeit, Freiheit, Vergebung.» In zwölf Essays philosophieren verschiedene Autorinnen und Autoren und nehmen dazu Aspekte der Krimireihe unter die Lupe: Vorspann, Ermittler, Täter und Motive.
Die Lust am Bösen
Über 900 «Tatort»-Folgen gingen bereits über den Schirm, und noch immer versammeln sich im deutschsprachigen Raum Millionen von Zuschauern sonntagabends vor dem Fernseher. Wie ist das möglich?
Eine Antwort gibt der Literaturwissenschaftler Richard Alewyn, der 1968 den Aufsatz «Anatomie des Detektivromans» verfasste. Krimis seien deshalb so erfolgreich, weil sie dem Bedürfnis des Lesers nach der Verfremdung der Realität nachkommen. «Der Zuschauer und Leser kostet mit jedem Krimi an einer in der Realität überaus selten gewordenen Frucht: dem Gewaltverbrechen.»
Die Erleuchtung bei der Currywurst
Die Idee zur Lösung des Gewaltverbrechens haben die «Tatort»-Kommissare meist dann, wenn sie eine Currywurst essen oder die Beine am Schreibtisch übereinanderschlagen. Wieso gerade in diesen Momenten der Entspannung? Im Buch findet man Erklärung beim Zeit-Theoretiker Harmut Rosa.
Die paar Minuten am Imbissstand erlauben eine Entschleunigung der ständigen Forderung nach Produktivität. Diese «Resonanzerfahrungen» sind Inseln im Alltag, nach denen sich nicht nur Kommissare, sondern auch die Zuschauer sehnen. Während die Ermittler nur wenige dieser kostbaren Momente erfahren, geniesst das Publikum diese jeweils zwischen Wochenende und -beginn während 90 Minuten.
Unerfüllter Anspruch
Der Sammelband geht weiter auf Friedrich Nietzsche und die «Tatort»-Musik ein, erklärt anhand von Alain Badiou und Eva Illouz das Single-Leben vieler Kommissare und erläutert das Böse mit Hanna Arendt. Das Buch vermittelt Denkanstösse, Namen und Theorien. Diese zu vertiefen oder in ein Ganzes zu betten, gelingt nicht.
Die vielen Hinweise auf Schauspieler und Schauplätze aus über 40 Jahren «Tatort» verunsichern den Laien. Manche Vergleiche wirken konstruiert. Ist der «Tatort» genug geistreich, um mit ihm in die Philosophie einzuführen? Das Millionen-Publikum dürfte sich an der guten und leicht verdaulichen Unterhaltung der Krimireihe erfreuen. Das Buch hingegen ist schwere Kost. Es erfordert Konzentration und Durchhaltewille.