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Gedankenexperiment Gauguin «Die Moral verspricht uns kein aufregendes Leben»

Dürfen wir andere im Stich lassen, um uns selbst zu verwirklichen? Wie stark binden uns moralische Verpflichtungen? Der Philosoph Peter Schaber sieht in Gauguins Erfolg und Talent keine Rechtfertigung für seine moralischen Fehltritte.

Zur Person

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Peter Schaber ist Professor für Angewandte Ethik an der Universität Zürich.

SRF: Rechtfertigen grosse Leistungen moralisch schlechte Handlungen?

Peter Schaber: Nein. Moralisch verwerfliche Handlungen sind erklärtermassen nicht zu rechtfertigen. Gauguin war zwar ein grossartiger Künstler, aber dass er – wie im Filosofix-Film gezeigt – einerseits die Familie im Stich liess, und andererseits scheinbar sexuellen Kontakt zu Minderjährigen hatte, wird dadurch nicht angenehmer.

Man muss auch bedenken, dass es in dieser Zeit noch keine Absicherungssysteme gab, Frau und Kinder waren also wirklich auf sich alleine gestellt.

Man darf moralische Pflichten also nicht zurückstellen, um sich selbst zu verwirklichen?

Meiner Meinung nach gehört es zur Idee einer moralischen Pflicht, sie zu befolgen. Aber ich bin überzeugt, dass die Moral uns Raum für Handlungen lassen muss, mit denen wir uns selbst verwirklichen können. Das befand übrigens auch Kant.

In Einzelfällen kann man sich sinnvollerweise fragen, ob Menschen verpflichtet sind, andere aus ihren Pflichten zu befreien. In Gauguins Fall hätte die Frau ihn aus seiner ehelichen Pflicht entlassen können. Senn sie das aber nicht tat, dann ist Selbstverwirklichung schlicht kein Grund für Pflichtverletzung.

Seine Frau hätte Gaugin auch aus seiner ehelichen Pflicht entlassen können.

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Gauguin hätte zuhause bleiben müssen?

Ja, auch wenn es vielleicht bedauerlich und die Welt insgesamt kulturell ärmer wäre, denn der Kulturbetrieb hat sich immer wieder auch dadurch gespeist, dass Künstler für ihre Werke solche Pflichten verletzt haben.

Wenn Gauguin also nicht von seiner Familie weggegangen wäre, hätten wir diese Art von Bildern vermutlich nicht. Aber die Moral ist nicht mit dem Versprechen verbunden, dass sich alle möglichst optimal verwirklichen können. Sie verspricht uns kein aussergewöhnlich aufregendes Leben.

Darf man denn die Werke eines Menschen bewundern, der moralisch schlecht gehandelt hat?

Durchaus. Wenn etwas Gutes entsteht, heisst das nicht, dass die Bedingungen, mit welchen dieses Werk entstand, auch gut waren. Viele wertvolle Dinge wie zum Beispiel die Erklärung der Menschenrechte verdanken sich wohl auch der Erfahrung massiver Rechtsverletzungen, schlechten Dingen also. Die ästhetische Leistung eines Menschen muss unabhängig von seiner moralischen Qualität beurteilt werden.

Mensch und Werk sind also zwei zu trennende Kategorien?

Für mich sind das zwei unterschiedliche Beurteilungs- und Wertschätzungsdimensionen: Einerseits die Frage, ob die Person künstlerisch und kreativ, und andererseits ob sie ein moralischer Mensch war. Das muss man separat beurteilen.

Im Museum bewundern wir ja letztlich nicht Gauguin selbst, sondern seine visionäre Kreativität und seine enorme Schaffenskraft. Selbst wenn sie ihre Grundlage mitunter darin haben, dass er moralisch schlecht gehandelt hat.

Die ästhetische Leistung eines Menschen muss unabhängig von seiner moralischen Qualität beurteilt werden.

Welche Rolle spielt der Erfolg für die Beurteilung von moralischem Versagen?

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Bernard Williams, der dieses Gedankenexperiment damals mitunter zur Provokation der Moralphilosophen verfasst hat, war der Meinung, dass Gauguins Handeln durch seinen Erfolg gerechtfertigt werde. Seine Ansicht teile ich nicht.

Erfolg ist etwas Kontingentes, zudem würde sich so die Frage stellen, ab wann etwas als Erfolg gelten kann. Für die Opfer der Pflichtverletzung wäre eine solche «Rechtfertigung» ein Hohn.

Wir können die Motive, moralische Pflichten zu verletzen, von Menschen wie Gauguin nachvollziehen; dies allerdings unabhängig vom Erfolg, den sie haben. Ich kann auch die Pflichtvernachlässigung des Extrembergsteigers, der jedes Wochenende einen Berg besteigt, nachvollziehen. Dies auch dann, wenn ihn niemand sonst kennt. Das heisst aber nicht, dass sie dadurch moralisch gerechtfertigt wird.

Das Gespräch führte Olivia Röllin.

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