Die Schweiz hat 1971 als eines der letzten europäischen Länder den Frauen das Stimmrecht zugestanden. Zur selben Zeit gab es in Indien bereits eine oberste Politikerin: Von 1966 bis 1977 regierte Indira Gandhi erstmals als Premierministerin. Gewählt wurde sie auch von Frauen, denn wie die Männer erlangten sie bereits 1935 das Stimm- und Wahlrechtrecht.
Frauen sind also schon lange Zeit juristisch und politisch den Männern gleichgestellt. Trotzdem erreichen uns immer wieder Schreckensnachrichten über Gewalt an Frauen oder Abtreibungen von Mädchen. Wie kommt das?
Vorbildlich: Gesetzliche Gleichstellung
Eine, die Antworten kennt, ist Urvashi Butalia. Sie war 1984 Mitbegründerin von «Kali for Women», des ersten feministischen Verlags Indiens. Sie weiss: Die Situation indischer Frauen ist facettenreich und keinesfalls nur so, wie in westlichen Medien dargestellt. Oft würde übersehen, dass Indien seit den 1960er-Jahren eine aktive Frauenbewegung hat. Diese sei kein Abklatsch eines westlichen Feminismus, sondern kämpfe für eigene Anliegen und mische bei politischen Diskussionen mit.
Nicht zuletzt dank dieses Engagements gab es eine Reihe Gesetzesänderungen, welche die Stellung der Frau in der Verfassung verbessert haben: Seit 1961 ist das Zahlen einer Mitgift untersagt, das Mutterschutzgesetz erlassen. 1994 wurde die Geschlechterbestimmung von Embryonen und das Abtreiben weiblicher Föten verboten. Seit 2005 ist Vergewaltigung durch den Ehemann strafgesetzlich zu verfolgen. Bereits 1992 gab es eine Frauenquote von 33 Prozent für dörfliche und kommunale Amtsstellen. Dies hat dazu geführt, dass heute mehr als 1,2 Millionen Verwaltungsstellen von Frauen besetzt sind.
Veränderungen sind möglich
Politische Macht ist nur eines der Themen, das für die indische Frauenbewegung von Bedeutung sind. Seit ihren Anfängen hat sie sich zu einer vielschichtigen Bewegung entwickelt: Viele Aktivistinnen kommen aus einem breiten linken Spektrum oder aus Bürgerrechtsbewegungen, in denen Fragen des Patriarchats und männlicher Übermacht eingebracht wurden. So werden mittlerweile feministische Forderungen mit allgemein politischen Problemen wie der Landfrage, den Rechten von Arbeitnehmenden, gewerkschaftlichen Fragen oder Hausarbeit verknüpft.
Eines der ersten Themen war die öffentliche Debatte um Vergewaltigung. Vor allem der Fall von Rameeza Bee, die 1978 auf einer Polizeiwache vergewaltigt und deren Mann bald darauf ermordet wurde, war der Auftakt einer landesweiten Kampagne gegen sexuelle Gewalt.
Ein Brief von bekannten Rechtsanwälten, die gegen den Freispruch von zwei Polizisten in einem anderen Vergewaltigungsfall protestierten, wurde zur Grundlage nationaler Proteste. Diese erreichten schliesslich Einfluss auf Gesetzesänderungen. Die vielen Aktionen machten die Frauenbewegung sichtbar und lösten ein Gefühl der Euphorie aus: Veränderungen waren nicht nur nötig, sondern auch möglich.
Westliche Medien berichten oft einseitig
Doch in den späten 1980er-Jahren zeigte sich, dass Gewalt an Frauen nach wie vor Alltag war. Noch heute ist ein gesellschaftliches Umdenken dringend nötig. Vergewaltigungen finden täglich statt, wie die Vorfälle von 2012 und 2013 auf erschreckende Weise gezeigt haben.
Und doch: Butalia und andere indische Feministinnen wie Kamla Bhasin werden nicht müde zu betonen, dass gerade westliche Medien sexuelle Gewalt an Frauen einseitig und oft als «indisches Problem» darstellen. Indien werde als weit entferntes, «anderes» Land gezeigt, dessen Kultur und Menschen dem Westen fremd seien.
So falle es uns leichter, eigene Probleme von uns zu weisen, weil eben die Probleme der «anderen» betont werden. Damit werde die Diskussion um sexuelle Gewalt an Frauen im eigenen Land vernachlässigt, genauso wie eine globale Vergewaltigungsthematik. Ausserdem würde dadurch auch das Engagement der indischen Frauenbewegung verkannt.