Der Mythos hatte in der Philosophie früh schlechte Karten. Zwar schöpften die Vorsokratiker aus den mythologischen Erzählungen durchaus noch philosophische Erkenntnis. Doch bereits Aristoteles schied den Mythos vom vernunftbasierten Logos, und billigte dem mythischen Denken nur noch eine Annäherung an die Wahrheit zu.
Im Zeitalter der Aufklärung wurde der Mythos ganz ins kindliche Denken verbannt. Bestenfalls war er noch von religionsphilosophischem Interesse – der wahren Erkenntnis jedoch schien er nur noch abträglich.
Doch wie sehr man den Wahrheitsanspruch der Mythen auch kleinzureden versuchte, deren Strahlkraft war in keiner Gesellschaft zu übersehen. Einige wenige Philosophen begannen sich deshalb im 19. und 20. Jahrhundert wieder für den Mythos zu interessieren: Wie kann etwas ganz offensichtlich Bedeutung stiften, das keinen Wahrheitsgehalt hat? Könnte es nicht umgekehrt sein, dass neben dem logischen Denken ein mythisches Denken existiert, das zu Recht einen Wahrheitsanspruch erhebt?
Mythen als Weltbewältigung
Der Philosoph Hans Blumenberg hat genau diese Ansicht vertreten. Wenn der Logos als Gegenbegriff zum Mythos aufgefasst wird, so sei sein Inhalt abhängig von einem Begriff der Rationalität. Dieser sei genauso historischen Veränderungen und kulturellen Wertungen unterworfen, schreibt Blumenberg in «Arbeit am Mythos».
Den Wahrheitsgehalt des Mythos zu bezweifeln, heisst für Blumenberg deshalb immer, einen Vernunftbegriff zugrunde zu legen, der seinerseits einer Begründung bedürfe. Blumenberg gesteht den Mythen die Rolle der «Weltbewältigung» zu, die einen Erkenntnisanspruch, jedoch vor allem einen Sinnanspruch aufweise.
Mythen schaffen Gemeinschaft
Ganz abgesehen davon, wie die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Mythen zu beantworten ist – unbestritten ist: Mythen haben eine gemeinschaftsstiftende Kraft. Dies betont auch Oliver Zimmer, Professor für moderne Geschichte, in der Sendung «Kontext» von Radio SRF 2 Kultur.
Peter Sloterdijk spricht in diesem Zusammenhang von Mythen als «ethnoplastischen Erzählungen»: Sie formen eine gemeinschaftliche Identität, so wie persönliche Geschichten eine individuelle Identität mit erschaffen. Eine Person ohne Gedächtnis büsst an Identität ein. Genauso verliert eine Gemeinschaft ihren Gemeinsinn, wenn sie nicht aus Narrativen schöpft, die für alle bedeutsam sind.
Die Beweglichkeit von Geschichten
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Allerdings ist den Mythen wesentlich, dass sie beweglich bleiben: Sie verändern sich mit der Zeit, gewichten Details neu. Mythen haben einen wortwörtlich sagenhaften Kern, insofern als sich ihr Wahrheitsgehalt nicht objektiv festlegen lässt.
Das verhält sich mit biografischen Geschichten genauso: Das eigene Scheitern und Siegen erzählen wir unterschiedlich mit zwanzig, fünfzig oder neunzig Jahren; stets aber begleiten uns unsere persönlichen Narrationen und festigen uns als Charaktere. Vor diesem Hintergrund ist der Schweizer Streit um die eidgenössischen Mythen auch deshalb interessant, weil viele zu belegen versuchen, wie es «wirklich» war, damit aber den eigentlichen Sinn des Mythos verfehlen.
Kein Streit um einen Mythos, sondern widerstreitende Mythen
Ein gefährlicher Mythos kann also nicht mit dessen «richtiger» Deutung vernichtet werden, sondern allein mit einem moralischen Appell: Die Macht des Mythos muss da begrenzt werden, wo dieser dazu dient, menschenverachtende oder selbstzerstörerische Ziele zu verfolgen. Doch moralische Appelle werden meist mit vernünftigen Argumenten vermittelt, die hinter der Sogkraft von Bildern, Ritualen und Heroen wirkungslos verhallen.
Der deutsch-jüdische Philosoph Ernst Cassirer warnte vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen im «Dritten Reich» in seinem New Yorker Exil davor, dass Menschen in unsicheren Zeiten für Argumente unerreichbar bleiben, für politische Mythen jedoch sehr empfänglich sind.
Vor dem «Mythos als Waffe» müsse man sich deshalb ebenso fürchten wie vor dem realen Waffenarsenal. Doch wenn der Kampf für die Menschlichkeit nicht allein mit Argumenten geführt werden kann, muss zu deren Verteidigung ebenso im Fundus der Mythen gewühlt werden. Dann hätten wir keinen Streit um den einen Mythos mehr, sondern widerstreitende Mythen. Eine reizvolle Idee.