Eigenartig, wie diese Rede noch heute bewegt. «Ich hab nicht erwartet, dass mich die Rede noch einmal so affektiv erfasst, wie sie es getan hat», sagt ein nachdenklicher Hans Ulrich Gumbrecht, nachdem er einen Teil von Barack Obamas Siegesrede nochmals gesehen hat.
Eine besondere Aura
Er sitzt in einer der Bibliotheken im Institut für Literatur der kalifornischen Eliteuniversität Stanford. Seit 28 Jahren lehrt Gumbrecht an dieser Uni, an der mehr Nobelpreisträger forschen als an jeder anderen Universität. Ein deutscher Professor in Amerika, der beide Perspektiven auf die amerikanische Gesellschaft bündeln kann: die europäische und die amerikanische.
Hans Ulrich Gumbrecht ist trocken und direkt in seiner Analyse der Obama-Jahre. Er spricht von den Verdiensten, von der Gleichstellung von Menschen verschiedener sexueller Orientierung. Obama, der Präsident, der die stagnierende Wirtschaft wieder in Gang brachte, der als erster US-Präsident ein Gefängnis besuchte, der sowohl eine Gefängnis- als auch eine Justizreform initiierte.
Und der Präsident, «der erstaunlicherweise diesem Amt, dieser Rolle, diesem Haus, dieser Institution sozusagen eine neue Aura gegeben hat.» Eine Aura – so erläutert Hans Ulrich Gumbrecht – «durch die man immer an die ganz grossen Präsidenten, also an Kennedy, an Lincoln, an Roosevelt in gewisser Weise erinnert war.»
Die Tragik
Der Präsident der USA – er symbolisiert immer mehr als einfach nur eine Machtposition, mehr als die Summe seiner politischen Entscheidungen. Für welche Werte steht er? Welche Impulse kann er in einer Gesellschaft implantieren, welche Art des Denkens?
Obama war ein Präsident ohne jeglichen Skandal. Ein Präsident, der unangenehme Fragen stellte und das Weisse Haus dem gesellschaftlichen Diskurs öffnete. «Ich halte diese formbetonte Würde, die Obama dem Präsidentenamt wieder gegeben hat, für eine der zentralen Leistungen. Das ist keine Leistung, die man an irgendeinem Tag bringt, sondern das ist eine Leistung, die sich ergibt aus der Kontinuität des Stils der acht Jahre», sagt Hans Ulrich Gumbrecht.
Und vielleicht ist das die besondere Tragik des Präsidenten Barack Obama, dass ausgerechnet er, der Öffnung proklamierte, der diesem Amt neue Würde gab, ein Land hinterlässt, das sich gespalten und unfähig zum Dialog zwischen politischen Gegnern offenbart.
Niemand wird mehr an einer Blinddarmentzündung sterben
«Es hat seit dem frühen 20. Jahrhundert nicht einen einzigen Präsidenten gegeben, ob Republikaner oder Demokrat, der nicht versucht hat, eine Gesundheitsreform anzugehen», sagt Hans Ulrich Gumbrecht.
Obama ist es gelungen. «Das ist schon eine unumkehrbare Neuerung, die sehr wichtig ist, im sozialen Sinn. Das heisst einfach, niemand wird mehr an einer Blinddarmreizung sterben, weil er nicht das Geld hat, die Blinddarmoperation zu bezahlen.»
Präsident aller Amerikaner
Und gleichzeitig, so betont Hans Ulrich Gumbrecht, «hat Obama als erster afro-amerikanischer Präsident die Minderheitenrechte und Minderheitenfragen nicht zum zentralen Anliegen seiner Präsidentschaft gemacht.»
Denn er wollte nicht ein afro-amerikanischer Präsident gelten, der sich nur um Afro-Amerikaner kümmert. «Wenn er das gemacht hätte, dann hätten wir gedacht, ah wir haben jetzt einen schwarzen Präsidenten, und immer wenn wir einen schwarzen Präsidenten haben, wird der sich um die Rechte der Schwarzen, der Minderheiten kümmern. Diese Themen waren für Obama wichtig, aber sie waren nicht zentral», erklärt Hans Ulrich Gumbrecht diese Haltung, für die Obama auch sehr viel Kritik einstecken musste.
Denn die soziale Ungleichheit hat sich nicht verändert in den letzten acht Jahren, nicht zwischen Arm und Reich, nicht zwischen dem schwarzen und weissen Amerika.
Hoffnung auf den Wandel
Doch die Hoffnungen waren immens gewesen: da stand im Grant Park in Chicago kein weisser Macho, der den Machtanspruch von Amerikas weisser Elite verkörperte, sondern ein einfühlsamer Intellektueller, der den Wandel versprach. Und der den Zynikern und Skeptikern ein trotziges «Yes, we can» entgegenschleuderte.
«Dieses zentrale Motiv, das Leitmotiv, das ‹Yes, we can› war schon damals für mich ein Ambivalentes», meint Hans Ulrich Gumbrecht. Denn ‹Yes, we can› heisst «trotz allem». Und er erläutert: «Und ich hab den Eindruck, dass diese Hoffnung, dieser Fortschrittsglaube aus einer Konstruktion von Zeitlichkeit kommt, die nicht mehr die unsere ist.»
Obama wollte Hoffnung wecken, Hoffnung, dass Veränderung möglich ist. Diese Hoffnung ist ein Grundprinzip der Demokratie, die davon ausgeht, dass man die Zukunft gestalten kann. Aber lässt sich die Zukunft überhaupt noch gestalten? Sind die Gefahren, die drohenden Krisen nicht längst immun gegen den Gestaltungswillen der Politik?
Obama, der Krisenmanager
Hans Ulrich Gumbrecht sieht in der Zukunft Gefahren auf uns zukommen, die so gross, so unberechenbar, dass «Politiker als Visionäre keine grossen Versprechungen mehr einlösen können. Das ist eine Zukunft, in der die besten Politiker Krisenmanager sind, und ich denke, Obama war ein für diese Welt in den meisten Fällen grossartiger Krisenmanager.»
Und das «Yes we can»?
«Das ‹Yes, we can› hat sich nicht bewahrheitet. Es war nicht zu bewahrheiten», antwortet Hans Ulrich Gumbrecht.