Den meisten Deutschen steht in den 50er- und 60er-Jahren nicht der Sinn danach, sich mit ihrer NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sie bauen aus den Ruinen, die der Krieg hinterlassen hat, ein neues Land. Sie schaffen es in kurzer Zeit, einen neuen Wohlstand zu erlangen.
Nur Wenigen liegt daran, die Verbrechen aufzuarbeiten, die während der Naziherrschaft begangen wurden. Henry Ormond, ein gebürtiger Deutscher, der als britischer Soldat zurückkehrte, war einer von ihnen. Er machte sich einen Namen als Anwalt der Menschen, die in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten ermordert wurden.
Vom Staatsanwalt zum KZ-Häftling
Henry Ormond wird 1901 in Kassel geboren. Schon früh verliert er seine Eltern, mit sieben Jahren ist er Vollwaise. Seine Tante nimmt ihn auf. Beruflich sieht es zunächst gut aus. Schon bald nach seinem Jura-Studium wird Henry Ormond Staatsanwalt und Richter in Mannheim. Doch nur einige Jahre später, 1933, wird er als jüdischer Beamter von den Nazis entlassen. Er resigniert nicht und kommt bei einem Kohlehändler als Justitiar unter.
Auch das geht nicht lange gut. 1938 verhaften ihn die Nazis, Ormond landet im Vernichtungslager Dachau. Dort müssen er und seine Mithäftlinge im Januar bei eisigen Temperatoren 36 Stunden Appell stehen. Irgendwann hält es Ormond nicht mehr aus, ein Mithäftling stützt ihn. Sonst wäre er hingefallen und erfroren.
Aus Deutschland in die britische Armee
Im Frühjahr 1939 wird Ormond entlassen mit der Auflage, Deutschland zu verlassen. Er emigriert nach England und wird zwei Jahre später in die britische Armee aufgenommen. Bei Kriegsende kehrt er zurück nach Deutschland. Die britische Militärverwaltung beauftragt ihn, die Presse in Deutschland neu mitzugestalten.
Ormond vergibt Lizenzen an Zeitungen. Eine davon an das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel». Ein Angebot der baden-württembergischen Justiz, wieder als Richter zu arbeiten, lehnt er ab. Ormond will nicht mit ehemaligen NS-Richtern zusammenarbeiten, die in Deutschland nun wieder in Amt und Würden sind.
Im April 1950 eröffnet Ormond eine eigene Anwaltskanzlei in Frankfurt am Main. Schon bald engagiert er sich in Wiedergutmachungs-Prozessen und dann in den NS-Strafverfahren. Beim Auschwitz-Prozess in Frankfurt (1963–1965) vertritt Henry Ormond die Opfer und deren Angehörige als Nebenkläger. Sein herausragendes Engagement bei der Aufklärung von NS-Verbrechen geht aus seinem Nachlass hervor, der jetzt dem Frankfurter Fritz-Bauer-Institut vorliegt.
Verteidigung der Opfer
Doch nicht nur beim Auschwitz-Prozess wird Ormond eine entscheidende Rolle spielen. Er hat sich schon Jahre zuvor für die Opfer des Holocausts eingesetzt, etwa 1953 beim sogenannten Wollheim-Prozess. Wie auch später beim Auschwitz-Prozess übernimmt er teilweise die Reisekosten für die Zeugen. Sie werden ihm später erst nach langem Gezerre und auch nur teilweise erstattet.
Angestossen hat den Prozess der Auschwitz-Überlebende Norbert Wollheim, Ormond vertritt ihn als Kläger. Auf der Seite der Beklagten sitzen Vertreter der IG Farbenindustrie. Das ehemals grösste Chemieunternehmen der Welt hatte in Auschwitz Häftlinge für sich arbeiten lassen. Die meisten starben durch mörderische Arbeitsbedingungen.
Die Anwälte gehen dreist vor. Sie behaupten sogar, die Häftlinge hätten gern im Lager Auschwitz-Monowitz gearbeitet. Hier seien sie sicher gewesen, die IG Farben hätte sie vor der Gaskammer gerettet. Das Urteil vom 10. Juni 1953 lautete auf 10‘000 DM Schadenersatz. Darauf folgen einige langwierige Vergleichsfahren mit jüdischen Organisationen. Mit Erfolg: Am Ende muss das Unternehmen 30 Millionen DM an 6000 überlebende Zwangsarbeiter zahlen.
Aus Gerechtigkeitsgefühl, nicht aus Rache
Parallel zum Auschwitz-Prozess läuft auch ein Verfahren gegen Hermann Krumey und Otto Hunsche. Krumey war Stellvertreter von Adolf Eichmann, dem Organisator des Holocausts, Hunsche sein Rechtsberater. Ihnen wird die Deportation von 427‘000 ungarischen Juden 1944 vorgeworfen. Das Urteil ist ein Skandal.
Das Gericht sieht in Krumey nur einen Gehilfen und verurteilt ihn zu fünf Jahren Zuchthaus. Hunsche spricht es aus Mangeln an Beweisen frei. Ormond kann es nicht fassen. In einer Fernsehsendung greift er den Richter öffentlich an. Doch dann gelingt es seinem Kollegen, Christian Raabe, dem Gericht einen Formfehler nachzuweisen. Die Geschorenen wurden in falscher Reihenfolge einberufen.
Und das reicht: Der Bundesgerichtshof hebt das Urteil von 1965 auf. Drei Jahre später wird gegen Krumey und Hunsche neu verhandelt. 107 Zeugen haben die Staatsanwaltschaft und Ormond mittlerweile ausfindig gemacht. Und dieses Mal sind sie erfolgreich. Am 29. August 1969 verurteilt das Schwurgericht beim Landgericht Frankfurt Hermann Krumey zu lebenslangem und Otto Hunsche zu zwölf Jahren Zuchthaus.
Es war vor allem das Gerechtigkeitsgefühl gewesen, das ihn motiviert habe, die Opfer im Auschwitz-Prozess und in anderen NS-Prozessen so vehement zu vertreten, meint Henry Ormonds Sohn Thomas. «Er hat es nicht ertragen können, da einfach Ungerechtigkeit hinzunehmen.» Bis zu seinem Tod. Mit 71 Jahren stirbt Henry Ormond bei einem Verfahren in Frankfurt im Gerichtssaal.