SRF: Wir essen gesund, treiben Sport und zwingen uns zu geistigen Höchstleistungen. Woher kommt das Verlangen, sich bis zum Äussersten zu optimieren?
Ariadne von Schirach: Selbstoptimierung beschreibt die Arbeit am Produkt Mensch. Unsere Gesellschaft funktioniert zunehmend nach kapitalistischen Marktprinzipien. Da zählt nur noch, was verkäuflich ist.
Wir können nur das verwerten und verkaufen, was sichtbar, berechenbar und messbar ist. So entsteht ein Ungleichgewicht zwischen der Selbstoptimierung, die ich als Arbeit am Äusseren verstehe, und der Lebenskunst, der Arbeit am inneren Menschen.
Ist der Drang zur Selbstoptimierung heute stärker als früher?
Ich glaube, dass innere Werte vor 20 Jahren wichtiger waren als heute. Zum Beispiel Bildung oder Charakter. In einer Zeit, in der es nur noch um Leistung geht, erzeugen diese neuen Werte auch eine neue Normalität.
Man schaut auf sein Leben wie auf eine Bilanz.
Je schneller Digitalisierung und Ökonomisierung voranschreiten, desto beschleunigter und zugleich marktförmiger wird die Welt. Das Lebendige wird zum Lesbaren, Qualität zu Quantität, und Werte werden zu Preisen. Das betrifft natürlich auch den Einzelnen.
Kennen Sie das Wort «Ich-AG»? Es umschreibt ganz gut, was es heisst, wenn der Mensch sich in ein Produkt verwandelt.
In einer Zeit, in der Effizienz und Erfolg so wichtig geworden sind, wird jeder zum Unternehmer seines Selbst. Man betreibt sich wie eine Firma. Man schaut auf sein Leben wie auf eine Bilanz und versucht, den Wert des Ganzen zu steigern.
Sie beschreiben in Ihrem Buch «Du sollst nicht funktionieren», dass die Folgen dieses Leistungsdruckes mitunter fatal sind.
Jenseits von Burn-Out, Einsamkeit und Angst ist doch das Schlimmste an der unablässigen Selbstoptimierung dieser überall bemerkbare Verlust von Lebensfreude.
Wir verlernen, uns gehen zu lassen. Die Fähigkeit, Hingabe, Lust und Rausch zu erleben und zu geniessen, kommt uns durch diese dauernde Selbstbeobachtung und -kontrolle abhanden. Doch das ist nicht alles.
Die Philosophie sagt seit Jahrtausenden, der Menschen solle sich um seine Seele kümmern. Das bedeutet, eine Beziehung zu seinem Inneren zu haben – zu seinen Gefühlen, Träumen und Werten. Zu seiner eigenen Lebendigkeit. Wenn diese Beziehung verloren geht, verlieren wir auch den Sinn unseres Lebens.
In politisch unruhigen Zeiten suchen wir nach Anhaltspunkten, die Orientierung und Sinn versprechen. Ist die Selbstoptimierung der Versuch, zumindest etwas kontrollieren zu können, nämlich uns selbst?
Selbstoptimierung als eine Form von Kontrolle suggeriert Sicherheit, ja. Auch angesichts der umfassenden Beschleunigung versuchen wir, an etwas festzuhalten: an unserer Jugend oder an unserer Leistungsfähigkeit.
Zugleich versuchen wir uns immer wieder auf allen möglichen Märkten zu beweisen – vom Dating- bis zum Arbeitsmarkt.
Dadurch wird der Selbstwert zum Marktwert. Dabei vergisst man leicht, dass jeder Mensch, genau so wie jedes Stück Natur und jedes Tier, an sich wertvoll ist. Dieses Wissen müssen wir uns zurückerobern.
Also zurück zur Authentizität?
Da muss man differenzieren: Das Authentische des Menschen ist nicht nur sein Inneres, sondern eben Inneres und Äusseres zusammen. Diese puritanische Haltung, wir müssten uns nur auf das Innere konzentrieren und der verlogenen äusseren Welt abschwören, bringt uns auch nicht weiter.
Was bringt uns denn weiter? Wäre ein Mittelmass aus Selbstoptimierung und Lebenskunst optimal?
Ich glaube, der entscheidende Gedanke hinter dieser Frage betrifft nicht nur das Mass, sondern auch die Motivation. Es ist sinnvoller, die Energie, die wir in die Optimierung unseres Selbst stecken, dafür zu nutzen, das Bild, das wir abgeben möchten, mit unserer inneren Wirklichkeit in Korrespondenz zu bringen.
In einer Zeit, in der die Welt so sinnlos und brutal wirkt, liegt es an jedem Einzelnen, Widerstand gegen Konkurrenz, Kälte und Gier zu leisten. Das beginnt mit einem nutzlosen Lächeln, das wir dem anderen schenken, anstatt ihn oder sie einfach nur abzuchecken. Es ist an der Zeit, wieder Lieben zu lernen und das Leben zu wagen, anstatt es nur zu verwalten.
Das Gespräch führte Helen Stadlin.