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Nationalrat lockert Lärmschutz
Aus Tagesschau vom 11.03.2024.
Bild: Getty Images / CSA-Images abspielen. Laufzeit 2 Minuten 13 Sekunden.

Lärm-Forscher Martin Röösli «An Lärm kann man sterben»

Übermässiger Verkehrslärm kostet in der Schweiz rund 70'000 Lebensjahre pro Jahr. Die Politik kümmert sich zu wenig um die Erkenntnisse der Forschung zu den gesundheitlichen Folgen von Lärm, sagt der Umwelt-Epidemiologe Martin Röösli.

Martin Röösli

Umwelt-Epidemiologe

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Martin Röösli ist Professor für Umweltepidemiologie an der Universität Basel und Leiter der Einheit «Environmental Exposures and Health» am Swiss TPH. Er studierte an der ETH Zürich Umweltnaturwissenschaften und war an der Universität Bern tätig. Röösli gilt als international ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Untersuchung gesundheitlichen Auswirkungen von Umweltfaktoren auf die Bevölkerung.

SRF: Über Lärm lässt sich streiten. Was gilt aus wissenschaftlicher Sicht als Lärm?

Martin Röösli: Grundsätzlich werden in der Wissenschaft alle Geräusche, die unerwünscht oder schädlich sind, als Lärm bezeichnet.

Lärm hat also nicht nur mit Lautstärke zu tun?

Die Lautstärke ist ein sehr wichtiger Faktor, aber es gibt auch andere Faktoren, die eine Rolle spielen. Zum Beispiel der Zeitpunkt: In der Nacht ist Lärm störender als am Tag. Und es hat einen Einfluss, ob der Lärm gleichmässig oder stark impulshaltig ist.

Vintage-Grafik: Ein klassischer Radioempfänger.
Legende: «Immer auf Empfang»: Geräusche zu verarbeiten, gehört zu unserer DNA – das ist überlebenswichtig, kann uns aber auch ernsthaft krank machen. Getty Images / CSA-Images

Warum emotionalisiert Lärm so stark?

Das Gehör ist ein wichtiges Organ, um uns in der Umwelt vor Gefahren zu schützen. Das ist evolutionär von grosser Bedeutung. Wir sind immer auf Empfang.

Man kann Lärm häufig nicht ausweichen.

Es ist interessant zu sehen, wie Geräusche im Gehirn prozessiert werden: Zuerst geht das direkt ins Stammhirn. Bei unerwarteten Geräuschen erschrickt man, das kann man nicht kontrollieren. Die nächste Stufe ist das limbische System, wo die Emotionen entstehen. Da sieht man eben auch, warum Geräusche so stark emotionalisieren. Sowohl im Guten: Schöne Musik macht uns glücklich. Als auch im Schlechten: Geräusche, die wir nicht mögen, stimmen uns verärgert und aggressiv.

Die Ohren kann man leider nicht schliessen – trägt das dazu bei, dass Lärm wütend machen kann?

Ja, man kann Lärm häufig nicht ausweichen, das ist mit einem gewissen Ohnmachtsgefühl verbunden. Und das hat auch gesundheitliche Auswirkungen. Auch in der Nacht ist man permanent am Scannen. Und wenn etwas Unerwartetes auftritt, dann erwacht man. Langfristig kann das ein Stressfaktor sein, der die Gesundheit beeinträchtigt.

Was weiss die Wissenschaft heute über die gesundheitlichen Folgen von übermässigem Lärm?

Lärm ist ein Stressfaktor, der vor allem langfristig Gesundheitseffekte bewirken kann. Betroffen ist der Metabolismus, also die Nahrungsaufnahme. Ebenso wie bei anderen Stressfaktoren kann man unter übermässiger Lärmeinwirkung zunehmen: Ein typisches Risiko ist Diabetes.

Weiter hat Lärm einen Einfluss auf das Herz-Kreislauf-System: Herzinfarkte und Schlaganfälle sind häufiger unter Lärmeinwirkung, das ist gut untersucht. Und es gibt robuste Hinweise darauf, dass Lärm die mentale Gesundheit beeinträchtigen kann.

Lärm ist bei 500 Todesfällen pro Jahr in der Schweiz eine Mitursache.

Leute, die ohnehin schon psychische Belastungen haben, können Lärm noch deutlich weniger gut ertragen. Studien zeigen, dass ein akutes Lärmereignis im Extremfall bei Menschen, die gesundheitlich an einem Tiefpunkt sind, zum Todesfall führen kann.

Man kann also an Lärm sterben?

Ja, definitiv. Man schätzt, dass Lärm bei etwa 500 Todesfällen pro Jahr in der Schweiz eine Mitursache ist. Es ist aber nicht so, dass ein absolut gesunder Mensch aufgrund von Lärm sterben kann.

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Martin Röösli: «Diabetes und Infarkt sind einhergehend mit Lärm»
Aus Kassensturz vom 04.06.2019.
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Doch wenn mehrere Faktoren zusammenkommen, kann Lärm der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Und grundsätzlich hätte sich die Person wieder erholen und noch viele Jahre leben können.

Wie viele Lebensjahre gehen in der Schweiz pro Jahr verloren – aufgrund von Lärm?

Die letzten Abschätzungen beziehen sich auf Verkehrslärm. Es gehen rund 70'000 Lebensjahre in der Schweiz pro Jahr verloren.

Berücksichtigt die Politik in der Schweiz die aktuellen Forschungserkenntnisse zur Auswirkung von Lärm auf die Gesundheit?

Ich war von 2010 bis 2023 in der Eidgenössischen Kommission für Lärmbekämpfung. Wir haben festgestellt, dass die Lärmgrenzwerte, die noch aus den 80er-Jahren stammen, für Verkehrslärm zu hoch angesetzt sind. Wir haben vor drei Jahren aufgrund neuerer Studien einen Bericht gemacht, mit Vorschlägen, die sich einerseits auf die Höhe der Werte beziehen, andererseits auf die Messverfahren. Aber bisher ist dieser Bericht in einer Schublade verschwunden und es ist nichts passiert.

Ärgert Sie das?

Es geht bei Lärmschutz immer um ein Abwägen. Wie bei anderen Umweltfaktoren kann man nicht jegliches Risiko ausschliessen. Geräusche gehören nun mal zum Leben. Doch aus wissenschaftlicher Sicht denke ich schon, dass der Schutz höher sein sollte.

Auto im Comic-Stil, pink mit gelben Lichtern und Staubwolke.
Legende: Düt-düüt und … brumm! Mit wachsender Bevölkerung und steigendem Verkehr ist Lärmschutz eine Zukunftsaufgabe. Getty Images / CSA-Images

Jetzt hat das Parlament beschlossen, den Lärmschutz zu lockern, um das Bauen an Orten zu ermöglichen, die von Verkehrslärm betroffen sind. Wie stehen Sie dazu?

Das ist absolut die falsche Entwicklung! Ich bin überzeugt: Das generiert Folgekosten und -probleme, die man später aufwendig reparieren muss. Das Problem beim Lärmschutz ist ja, dass der Mensch wahnsinnig gut im Vergessen ist. Die Leute unterschätzen das Risiko von Lärm daher massiv. Doch wenn man Lärm akut ausgesetzt ist, gibt es fast nichts Schlimmeres in diesem Moment. Da findet eine systematische Unterschätzung statt.

Inwiefern ist Lärm auch eine soziale Frage?

Lärm ist ein wichtiges Kriterium bei der Wohnungssuche. Jeder, der es sich leisten kann, bezahlt mehr dafür, dass es ruhig ist. Das heisst, wer ohnehin benachteiligt ist, hat stärker unter Lärm zu leiden.

Man weiss aus Studien, dass Lärm einen Einfluss auf das Lernen der Kinder hat. Das ist doppelt problematisch, weil sich das generationsweise weiterzieht: Kinder von Benachteiligten haben dadurch schlechtere Chancen im Beruf.

Die Bevölkerung nimmt zu und der Verkehr ebenfalls. Werden wir in Zukunft mehr Konflikte rund um Lärm haben?

Das kommt darauf an, wie bewusst man Lärmschutz in die Planung einbezieht und nicht Bausünden kreiert, die dann jahrzehntelang Probleme verursachen. Man kann relativ gut auch in einem verdichteten Raum bauen, sodass es nicht zu laut ist.

Heute ist es typischerweise nicht in der Stadt am lautesten, sondern in der Agglomeration, wo die grossen Verkehrsströme stattfinden.

Kann man sich an Lärm gewöhnen?

Subjektiv kann man den Eindruck haben, dass man sich an Lärm gewöhnen kann. Doch wenn man schaut, was im Gehirn passiert, gibt es physiologisch keine Gewöhnung. Es gibt Studien, die Menschen befragen, ob sie sich von Lärm belästigt fühlen. Auch jene, die sich nicht gestört fühlen, haben ein erhöhtes Erkrankungsrisiko.

Das Gespräch führte Irene Grüter.

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Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 28.6.2024, 8:00 Uhr

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