Als Barack Obama anrief, war niemand zuhause. «Das ist doch Ironie», sagt Lawrence D. Bobo und lacht laut auf.
Allerdings. Obama war zwar noch nicht Präsident, wollte sich aber persönlich bei Lawrence Bobos Grossmutter bedanken, weil sie schon früh ihre Stimme für ihn abgegeben hatte. Darüber hatte CNN berichtet – und über ihren Stolz, mit dem diese 106-jährige afro-amerikanische Frau ihn, den Afro-Amerikaner, gewählt hatte, über ihre Hoffnung auf Veränderung, auf «Change».
In einer offen diskriminierenden Welt
Lawrence Bobo sitzt in seinem mit dunklem Holz getäfelten Büro im Institut für afro-amerikanische Forschung an der Harvard-Universität und erzählt von seiner Grossmutter Ann Nixon Cooper.
Sie war keine politische Person im eigentlichen Sinn, meint er, aber sie habe sich engagiert in der African-American community von Atlanta. «Und vor allem hat sie für ihre Familie gesorgt. Geboren gerade mal eine Generation nach der Sklaverei hat sie versucht, in einer offen diskriminierenden Welt ihre Kinder vor den Verletzungen und Beleidigungen der Umwelt zu schützen. Und gleichzeitig alles zu tun, damit sie ihre Talente entwickeln können», so beschreibt Lawrence Bobo seine Grossmutter.
Und das gelang ihr. Ann Nixon Coopers Haus wurde zum Treffpunkt für Künstler und Bürgerrechtler. Dass sie aber die Wahl eines Afro-Amerikaners zum Präsidenten erleben würde, das hätte sie sich wohl nicht einmal im Traum vorstellen können.
Ein rhetorisches Meisterwerk
Und noch weniger, dass dieser Präsident sie in seiner Siegesrede erwähnen würde. «Meine Mutter hat mich angerufen, dass Grandma in Obamas Rede vorkommen würde. Das hätte das Wahlkampfbüro mitgeteilt», so beschreibt Lawrence Bobo den 4. November 2008, den Tag der Wahl: «Ich kann noch immer nicht darüber reden, ohne gerührt zu sein. Denn Obama beschreibt das letzte Jahrhundert quasi aus ihrer Perspektive, um zu zeigen, was alles möglich sein kann in Amerika.»
Es ist in der Tat berührend, wie der neu gewählte Präsident dieses eine Schicksal zum Leitmotiv des letzten Teils seiner Rede macht. Obama nimmt ihr Leben als Beispiel, wie Amerika sich verändern kann.
Er beschreibt, wie sie die dunkelsten Kapitel von Gewalt und Rassendiskriminierung erlebt, Wirtschaftskrisen und Kriege übersteht und Zeugin wird von grossen Veränderungen, von der Mondlandung und dem Fall der Berliner Mauer.
Immer wieder unterbrochen vom trotzigen Refrain: Yes, we can – ja, wir schaffen das. Und dann sagt er: «Und bei dieser Wahl berührte ihr Finger den Screen, um zu wählen. Denn sie weiss, nach 106 Jahren in Amerika, während guter und schlechter Zeiten, wie Amerika sich wandeln kann.»
Acht Jahre danach
Ein Jahr später starb Ann Nixon Cooper. «Die Rede hat sie tief beeindruckt», erzählt Lawrence Bobo. «Wie hätte sie Barack Obamas Ära bewertet?» frage ich.
Es ist ein Zufall, dass ihr Enkelsohn Lawrence Bobo zu den wichtigsten Soziologen der USA gehört, die sich gerade auch mit diesen Fragen auseinandersetzen: Was hat Obamas Politik für die schwarze Bevölkerung der USA bewirkt? Hätte er eine eigene Agenda der «Politik für Schwarze» durchsetzen sollen?
Lawrence Bobo wird nachdenklich, aber er verneint die Frage. «Eine solche Agenda zu entwickeln, ist die Aufgabe von afro-amerikanischen Aktivisten, Intellektuellen und Community-Leaders» und fügt hinzu, man solle Obama den Job machen lassen, für den man ihn gewählt habe – den des Präsidenten.
Obama wollte Präsident aller Amerikaner sein, seine Politik zielte nie nur auf die schwarze Minderheit, wofür er auch heftig kritisiert wurde. Seine Sozialpolitik wollte Ausgleich und Gerechtigkeit, allem voran Obama-Care, die Gesundheitsreform, die vielen armen Afro-Amerikanern eine halbwegs ausreichende Krankenversicherung ermöglicht.
Rassismus unterschätzt
Und dennoch stellt auch Lawrence Bobo fest, dass Obamas Einfluss beschränkt war. Ohne ausreichende Mehrheit im Senat und Kongress blieb vieles nur Idee. Die politische Blockade der Republikanischen Partei liess keine fortschrittliche Politik zu. Und nüchtern fügt er hinzu: «Es war Naivität von allen Seiten, den immer noch vorherrschenden Rassismus in der institutionellen Politik der USA so zu unterschätzen.»
Wie hätte Ann Nixon Cooper das gesehen? Wie hätte sie seine beiden Amtszeiten bewertet? Sie hätte gewusst, dass die Verletzungen durch jahrhundertelange Ausbeutung und Diskriminierung nicht in acht Jahren geheilt werden können. Aber dem trotzigen Refrain von Barack Obamas Rede hätte sie zugestimmt:
Yes, we can.