Wir treffen uns an einer Bushaltestelle in der Ostschweiz, einige Kilometer oberhalb von St. Gallen. Guido Stierli holt mich mit seinem Lieferwagen ab. Der selbstständige Mittfünfziger heisst eigentlich anders. Er möchte anonym bleiben, aus Furcht Kunden zu verlieren, wenn seine Vergangenheit als Heimkind und medizinisches Versuchskaninchen bekannt werden würde.
Niemand kümmerte sich um die Langzeitfolgen
Sechs Jahre verbrachte Guido Stierli im katholischen Kinderheim im Kloster Fischingen, bis Ende der 1970er-Jahre. Einmal in der Woche wurden er und andere Kinder in die nahe gelegene psychiatrische Klinik nach Münsterlingen gefahren.
Es seien nur Kinder gewesen, deren Eltern nicht in der Lage waren, sich für sie einzusetzen. Jahrelang mussten sie Tabletten schlucken, Psychopharmaka. «Wir haben die gelben und weissen Pillen nicht unter dem Tisch verschwinden lassen können», sagt Stierli heute, «darauf haben die Nonnen sehr genau geachtet.»
Mit Folgen für sein Leben: «Wenn ich eine Kopfwehattacke habe, ist mir alles gleich, was rundherum passiert. Ich fahre zum Beispiel Auto und sehe eine Menschengruppe. Es ist brutal, dass ich das jetzt sage: Aber mir ist völlig egal, wenn ich diese Menschengruppe umfahren würde. Ich fühle einen so starken Schmerz, bin so apathisch», erzählt Stierli. Auch andere Heimzöglinge, an denen in Münsterlingen Medikamente getestet wurden, leiden bis heute an Kopfschmerzen, Panikattacken, Bluthochdruck und anderem.
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Ethische Kriterien interessierten nicht
Stierli weiss erst seit einem Jahr von den Arzneimitteltests, die an ihm durchgeführt wurden. Er fand Hinweise in Akten des Kinderheims. Das hätte ihn regelrecht umgehauen. Erst jetzt könne er sich seine Kopfschmerzen erklären.
Hier, in diesem Container, wo er seine Waren lagert und wir uns zum Gespräch treffen, schreit Stierli seine Wut heraus. Die Pillen seien von Ciba-Geigy gewesen. «Keine Entschuldigung, keine Entschädigung, nichts.» Obwohl Novartis bis heute Milliarden an den Antidepressiva verdiente, die sie auch an ihm getestet hätten.
Damals gab es zwar noch kein Humanforschungsgesetz oder Ethikkommissionen. Doch es gab längst ethische Richtlinien für Ärzte und Wissenschaftler: den «Nürnberger Kodex» von 1947, später auch die Deklarationen von Helsinki (1964) und Tokio (1975), beschlossen vom Weltärzteverband. Ohne «volle Aufklärung und freiwillige Zustimmung der Versuchspersonen» sollte kein Arzt Medikamente testen. Doch weder Roland Kuhn noch die Pharmafirmen hielten sich daran – und auch nicht die kantonalen Behörden im Thurgau.
Die Macht unkritischer Mediziner
Als zweites bin ich mit Karl Studer in seiner Praxis in Kreuzlingen am Bodensee verabredet. Der Psychiater und Psychotherapeut war als Klinikdirektor in Münsterlingen Nachfolger des 2005 verstorbenen Roland Kuhn. Er hat die Arzneimittel-Experimente seines Vorgängers nie in Frage gestellt.
Ihn interessierte nur das Ergebnis von Kuhns Menschenversuchen: «Seitdem die Psychopharmaka existieren, sind die Kliniken leer geworden. Ich habe meine Klinik angetroffen mit 530 Patienten, 1980. Als ich pensioniert wurde, 2006, waren es noch 200. Mit den Psychopharmaka konnten viele Menschen nachher selbständig leben.»
Kann denn der Zweck die Mittel heiligen? Nein, sagt Karl Studer und lacht gequält. «Aber das hat mich nicht interessiert, wie und ob Roland Kuhn es nach den Richtlinien der Helsinki Deklaration oder nach den Richtlinien der schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaft gemacht hat. Das war seine Sache. – Wir waren froh, dass es diese Medikamente gab.»