Gerade als wir das Interview beginnen wollen, rattert ein roter Zug auf das Bahnhofsgebäude zu und übertönt mit quietschenden Bremsen jedes Gespräch. «Das Geräusch meiner Kindheit», sagt Arno Camenisch. Er ist in Tavanasa aufgewachsen, direkt an den Gleisen.
In seinem zweiten Buch «Hinter dem Bahnhof» erzählt er davon, wie die Züge, die einmal in der Stunde ins Tal hinabfuhren, den Takt im Dorf angaben.
«Wie ein roter Faden verbindet die Rhätische Bahn die Sprachen und Kulturen in Graubünden», sagt Arno Camenisch. «Und gleichzeitig wecken die Schienen die Sehnsucht nach einer Welt jenseits des engen Dorfs.»
Halbes Billett für halbe Portionen
Heute, wenn er von seinen vielen Lesereisen zurückkehrt, steht die Rhätische Bahn für die zuverlässige Erreichbarkeit der alten Heimat. Seine letzte Lesung im Jahr macht Arno Camenisch immer im Bahnmuseum Albula, das wir uns nun zusammen anschauen.
Das nostalgische Kartonbillett für den Eintritt weckt Erinnerungen: «Für uns Kinder schnitt der Kondukteur das Billett immer entzwei und sagte, wir seien ja noch halbe Portziuns.»
Pioniere mit Backenbart
Vorbei an einer raumfüllenden Modelleisenbahn gehen wir in die Dauerausstellung im oberen Stock des früheren Bahnhofsgebäudes.
Als wir auf die Messinglocke in einer simulierten Schalterhalle drücken, erfahren wir von den frühen, backenbärtigen Förderern der Bündner Schmalspurbahn.
Um die Jahrhundertwende war das eine technische Meisterleistung. Rund 5000 Arbeiter waren im Einsatz, um die 42 Tunnels und 132 Brücken zu realisieren.
Kollision nach kurzer Zeit
«Passt.» Arno Camenisch hat sich einen alten Zylinder aufgesetzt. Doch die Uniformjacke drückt an den Schultern. Wir hängen sie zurück in den Spind, zu den eleganten alten Mützen und leuchtenden Schutzwesten, wie sie das heutige Bahnpersonal trägt.
Die Ausstellung lädt zum Anfassen und Ausprobieren ein. Quer durch den Raum führt ein Tunnel, darin helle Vitrinen mit Gesteinsbrocken und Postkarten, auf denen sich Arbeiter auf Rumantsch über die harten Winter beklagen.
Wir versuchen unser Glück beim Weichenstellen. Keine halbe Minute dauert es, bis es zur Kollision zweier Züge im Simulator kommt.
Entschleunigende Züge
Viele Zeitzeugen erzählen in der schön gestalteten Ausstellung von der Geschichte und den Herausforderungen des Bahnbetriebs im Gebirge. Die Filme und Hörstationen geben einen gesellschaftsgeschichtlichen Rückblick auf die Bedeutung der Eisenbahn für den Tourismus.
Die Rhätische Bahn gehöre zum Alltag der Bündner wie eine feste Figur, sagt Arno Camenisch und erinnert sich an Mutproben in seiner Kindheit: «Wir versuchten uns möglichst lange auf dem Trittbrett der fahrenden Bahn zu halten, um dann in den Schnee zu springen.»
Und was verbindet er heute mit den roten Zügen? «Die Rhätische Bahn steht für eine gewisse Gelassenheit. Für eine Entschleunigung, die sich gut auf den Geist auswirkt.»
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Kompakt, 24.7.17, 17:22 Uhr