Das Bundesministerium für Familien will 55'000 hilfsbedürftige syrische Kinder nach Deutschland holen und in Pflegefamilien unterbringen. Eine Website klärt alle formalen Fragen. In einem Werbevideo sagt dort der Abteilungsleiter eines Bundesministeriums über die Aktion: «Kinder, die sonst unter sehr belastenden Verhältnissen aufwachsen würden, können so vorübergehend an einem glücklichen Leben teilhaben.»
Weiter unten finden Besucher der Website ein Anmeldeformular für angehende Pflegeeltern. Ein Appell der Familienministerin Manuela Schwesig – samt Unterschrift – drückt dem ganzen schliesslich täuschend echt den Stempel der Amtlichkeit auf. Aber das Ganze ist ein Fake.
Konkrete Fragen zur humanitären Hilfe
Es ist eine Guerilla-Kunstaktion des «Zentrums für politische Schönheit», einer Gruppe von Kunstaktivisten aus Berlin. Was wollen sie mit der Website erreichen? «Wir haben uns eine Art Hyperrealität geschaffen», sagt Cesy Leonard vom «Zentrum für politische Schönheit». «Wir haben versucht, etwas vorzuleben, was wir als politisch oder moralisch schön empfinden, wie wir uns vorstellen könnten, dass Deutschland handeln könnte, wenn es eine bessere Welt gäbe.»
Dass das Bundesministerium die Aufnahme von 55'000 Flüchtlingskindern aus Syrien organisiert und finanziert, ist also frei erfunden. Das Zentrum wollte mit dieser Fiktion erreichen, dass der Krieg in Syrien nicht vergessen wird. Und es wollte konkrete Fragen zur humanitären Hilfe ins Bewusstsein rufen: «Wie schotten wir uns ab als reiches Land? Wie gehen wir damit um? Wie viele Flüchtlinge könnten wir aufnehmen?» Dass solche Fragen wieder auf die politische Agenda kommen, sei das Anliegen der Gruppe, sagt Leonard.
Mehr tun als bloss zu spenden
Links zum Artikel
Auf den fiktiven Aufruf haben sich hunderte Menschen gemeldet, die bereit waren, ein Kind aufzunehmen. Was war ihre Motivation? Hat sie die Aussicht auf Geld gelockt? Denn auf der fiktiven Webseite steht, dass einer Pflegefamilie monatlich 1000 Euro zustehen.
Dass die Menschen sich deswegen gemeldet haben, glaubt Cesy Leonard aber nicht: «Man kann ja auch ein deutsches Pflegekind nehmen, da kriegt man vom Staat auch 1000 Euro. Das war sozusagen das Vorbild.» Hinter der Teilnahme stecke darum mehr: «Ich denke, dieser Ansatz, konkret zu helfen und mehr zu tun als nur zu spenden, hat die Herzen der Menschen angesprochen.»
«99 können weitersterben»
Pflegeeltern zu suchen für syrische Kinder im Rahmen eines erfundenen Bundesprogramms, war das eine. Der zweite Teil der Aktion war eine fünftägige öffentliche Installation. Beim Bahnhof Friedrichstrasse in Berlin wurden zwei Container aufgestellt: im einen konnte man mit syrischen Flüchtlingen ins Gespräch kommen und so Vorurteile abbauen.
Auf den anderen Container wurden Bilder von syrischen Kindern projiziert – mit Telefonnummern. Das Publikum durfte abstimmen, welches Kind gerettet werden soll. Dazu der Sologan «Nur ein Kind gewinnt, 99 können weitersterben».
Eine zynische Provokation. Doch Leonard sieht den wahren Zynismus anderswo: «Die ‹Egalhaltung› ist ja da. Wir interessieren uns als Deutsche dafür nicht. Wir lassen ja 99 einfach weitersterben. Nicht mal, wir lassen 100 weitersterben, weil wir tun gar nichts als Länder. Die gesamte Europäische Union tut wirklich nicht genug», sagt die Aktivistin. Das Nichtstun der Staaten sei noch viel zynischer als ihre Aktion, die dieses Nichtstun bloss ausspreche.
Lichterketten haben wenig Wirkung
Trotzdem bleiben die Methoden des Zentrums für politische Schönheit unzimperlich und unredlich: eine gefakte Internetseite des Bundes, mitsamt Unterschrift der Familienministerin und gefälschtem Layout, plus makabere Slogans. Das «Zentrum für politische Schönheit» spricht von «aggressivem Humanismus».
Demonstrationen, Lichterketten – damit komme man nicht ans Ziel, sagt Cesy Leonard: «Das, was Greenpeace für die Natur ist, fehlt unter den Menschenrechtsorganisationen.» Diese seien sehr brav, dabei liessen sich Leonard zufolge die Methoden von Greenpeace auch auf humanitäre Probleme anwenden. Indem man etwa ein Flugzeug chartert und auf eigene Faust Menschen rettet.
Ob dieser «aggressive Humanismus» ein Weg ist, wird sich zeigen. Aufmerksamkeit sind der Aktivistengruppe und dem Thema aber gewiss. Und das kann bei der humanitären Katastrophe, die sich in Syrien abspielt, schon mal nicht falsch sein.