Wir treffen Daniela Widmer (30) und David Och (33) an einem neutralen Ort zum Gespräch. Bei Freunden, dort wo sie die ersten Monate nach der Entführung untergekommen waren. Sie haben sich entschieden, noch einmal über all die Erlebnisse der achteinhalb Monate bei den Taliban zu sprechen. Wobei sie seit der glücklichen Rückkehr in die Schweiz ohnehin ständig daran denken. Das Buch dazu steht seit Montag in den Läden.
«Es gibt keinen Morgen, wenn ich die drei Schritte vom Bett zur Schlafzimmertür gehe, an dem mir nicht bewusst wird, dass die Entführung stattgefunden hat, die ist immer da im Kopf.» So beschreibt Daniela Widmer ihre Situation. Ihr Lebenspartner David Och ergänzt: «Wir sind zwar nicht traumatisiert, aber man trägt das mit sich herum und muss vieles mit sich persönlich klären. Das ist so weit weg, man muss sich immer wieder klar werden, dass es wirklich passiert ist, das ist heute unvorstellbar.»
Die Risiken falsch eingeschätzt?
Dass sich Widmer und Och als ausgebildete Polizisten einem derartigen bekannten Risiko ausgesetzt hatten, trug ihnen in vielen Kommentaren Kritik ein – häufig auch Häme. Dabei hätten sie vor der Reise sehr wohl die Risiken abgewogen. «Eine Entführung schien uns viel unwahrscheinlicher, als Opfer eines Verkehrsunfalls oder von sonstiger Kriminalität zu werden», sagt David Och heute.
Sie hatten vor der Abreise mit Leuten gesprochen, die die gleiche Route durch Pakistan bereits gefahren waren. Und während der Reise liessen sie sich auf heiklen Passagen von Polizei und Militär eskortieren. Doch aller Vorsichtmassnahmen zum Trotz: Als sie für kurze Zeit unbewacht waren, an der Schnittstelle zwischen zwei Begleitungen, da schlugen die Entführer zu. Es war der 1. Juli 2011.
Von der Stadt Loralai in Belutschistan wurden sie von den pakistanischen Taliban verschleppt. 500 Kilometer weit nach Norden in deren Stammesgebiete in Waziristan. Später erfuhren sie, dass sie rein zufällig geschnappt wurden, ihre Entführer warteten auf jemand anderen, der nicht kam.
«Wie tot gefühlt»
Es folgten achteinhalb Monate Ungewissheit, ständig mit dem Tod vor Augen und in prekären hygienischen Verhältnissen. Mehrmals wurden sie an einen neuen Ort verlegt.
Daniela Widmer sagt: «Wir fielen oft in ein Stimmungstief. Die Mauern unserer Gefängnisse ragten bis zum Himmel hoch, da war kein Horizont, keine Sonne, die auf- und untergeht, keine Frauen, keine Kinder, keine Farben, keine Musik. Wir haben oft gedacht, wir werden wahnsinnig, und haben uns schon wie tot gefühlt.»
Wie hält man das aus? Hoffnung und der Glaube, diesen Alptraum zu überleben, waren ihre einzigen Stützen. Sie versuchten sich psychisch und körperlich einigermassen fit zu halten. Im engen Rahmen der Kreise, die sie in den Innenhöfen ihrer verschiedenen Kerker drehen konnten.
David Och hatte zweimal Malaria und wog am Ende 22 Kilo weniger. Ihre Bewacher sorgten sich zwar um ihre Gesundheit, dies aber nur so weit, dass ihre gute «Ware» keinen Schaden nahm. Denn für die beiden gekidnappten Schweizer wollten die Taliban 100 Gefangene freipressen und dazu forderten sie noch bis zu 50 Millionen Dollar Lösegeld.
Risiko oder drohender Tod?
Die Verhandlungen zogen sich hin, immer wieder schöpften die beiden neue Hoffnung – und wurden dann doch enttäuscht. Ihre Situation glich einem Pulverfass, mitten im Kampfgebiet zwischen Taliban und pakistanischer Armee. Täglich kreisten amerikanische Drohnen über ihren Köpfen, die jederzeit einen ihrer Taliban-Bewacher ins Visier nehmen konnten.
David Och: «Man ist absolut ausgeliefert, man kann nichts machen, muss das aushalten. In manchen Nächten warteten wir auf den Tod, um uns herum Kämpfe, die immer näher kamen, Explosionen, es war eine grosse Hilflosigkeit.»
In dieser Ausweglosigkeit reifte der Entschluss, die Flucht zu wagen. Mehrmals waren sie für Telefonate in die Schweiz aus ihrem Innenhof geholt worden. Dabei erkannten sie in der Nähe eine pakistanische Fahne, einen Checkpoint des pakistanischen Militärs, wie sich später herausstellte. Nach langer Vorbereitung und begünstigt durch die mehr und mehr gelockerte Bewachung wagten sie dann in der Nacht zum 15. März 2012 die Flucht.
Das alte Leben gibt's nicht mehr
Experten zweifelten danach an der Möglichkeit einer Flucht. Es sei wahrscheinlicher, dass sie sozusagen zur Flucht «animiert» worden wären, nachdem die Forderungen der Taliban wenigstens zum Teil erfüllt waren. Aber Daniela Widmer und David Och halten an ihrer Version fest – schliesslich sei noch keinem von all diesen Kritikern eine Flucht aus der Gefangenschaft in Waziristan geglückt. Ihnen schon.
Der Weg zurück ins alte Leben war trotz grosser Bemühungen nicht mehr möglich, die Aufarbeitung dauerte Monate. Heute arbeiten beide nicht mehr bei der Polizei.
In Fachhochschulklassen sprachen sie nach der Rückkehr über ihre Erfahrungen und die Risiken einer solchen Reise. Dies als Abgeltung für die Kosten, die der Schweiz für ihre Befreiung entstanden. Damit sehen sie ihre Pflicht erfüllt. Und nun sei der Moment da, um ihre ganz eigene Sicht der Ereignisse darzustellen. Mit der Veröffentlichung des Buches wollen sie die Geschichte fassbarer machen – vielleicht irgendwann mal ablegen. Wobei sie sich sehr genau bewusst sind, dass sie für ihre Risikobereitschaft «lebenslänglich» gekriegt haben.