Zehn gesunde Jahre ohne Arbeit. Zehn Jahre Ferien. Noch nie sind so viele Menschen so fit in Pension gegangen wie heute. Da hat sich in kürzester Zeit ein völlig neuer Lebensabschnitt in den kollektiven Lebenslauf des Westens geschoben. In einem Alter, wo die meisten Männer und Frauen durchaus noch weiterarbeiten könnten, verabschiedet sich die Gesellschaft von deren Arbeitskraft. Den Sinn des Lebens müssen die frisch Pensionierten selber finden. Keine leichte Sache.
Die jungen Alten
Einen Lebenslauf zu planen, wenn die Vorbilder fehlen. Das sei eine Überforderung, sagt Pasqualina Perrig-Chiello. Die Entwicklungspsychologin von der Universität Bern ist eine Expertin für diese «jungen Alten».
Wer heute zu dieser Altersgruppe zwischen 65 und 75 gehöre, sei oft im Sandwich zwischen Kindern, Enkelkindern und oft auch noch den eigenen Eltern: «Verschiedene Generationen teilen heute länger eine gemeinsame Lebensspanne. Das ist natürlich etwas Schönes, hat aber auch seine Kehrseite. Die Frage ist: Wie gehen die Pensionierten mit diesen vielfältigen Anforderungen um?»
Denn es zerrt und zupft von oben und unten an den jungen Alten. Sie werden gebraucht von ihren hochbetagten Eltern und sie werden gebraucht von ihren erwachsenen Kindern, die heute im Job oft extrem eingespannt sind und Unterstützung brauchen bei der Kinderbetreuung. Alles zusammen geht nur schwer.
Solidarität und Gemeinsinn sind gefragt
Ausserhalb der Familie gibt es weitere, grössere Kreise, wo Hilfe und Solidarität gefragt sind: Das Engagement im Freundeskreis, in der Nachbarschaft und der Gesellschaft im weiteren Sinn, zum Beispiel in Form von Freiwilligenarbeit. Es gibt viele Möglichkeiten, seine gesunden Jahre solidarisch zu leben.
Doch da tut sich die Generation, die heute in Rente geht, nicht immer leicht damit, weiss Pasqualina Perrig-Chiello: «Die Idee, wonach die Babyboomer Egomanen seien, hat natürlich schon eine gewisse Richtigkeit. Diese Generation hat immer auf Individualismus gesetzt und ihre Autonomie hochgehalten und Werte wie Solidarität oder Gemeinschaftssinn zunehmend abgestreift.»
Die Frage der Gerechtigkeit
Es ist also kein Klischee, dass viele der jungen fitten Alten gern im Camper unterwegs sind, ihr Leben geniessen, Wellnessen und Weltreisen. Diese Generation, die in den fetten Jahren gross geworden ist, lebt heute oft sehr gut mit AHV und Pensionskasse. So gut wie wohl keine der künftigen Generationen. Ist das gerecht?
Diese Frage geht an Otfried Höffe. Er ist Moralphilosoph, lange Jahre an der Universität Fribourg tätig und heute Präsident der Nationalen Ethikkommission für Medizin im Humanbereich. Höffe beschäftigt sich intensiv mit dem Thema: Austausch als Form von Gerechtigkeit – also mit dem Geben und Nehmen. «Da dürfen sich die jungen Alten von heute nicht rausnehmen», sagt er. Was man bekommen habe, müsse man zurückgeben oder weitergeben.
Phasenverschobene Tauschgerechtigkeit
Höffe hat den Begriff der «phasenverschobenen Tauschgerechtigkeit» geprägt und meint, dass Menschen in gewissen Lebensphasen nehmen und in anderen geben: «Man gibt beispielsweise die Hilfe, die man als Säugling von seinen Eltern erhalten hat zurück, wenn diese gebrechlich werden und ihrerseits Unterstützung brauchen.»
Doch muss Hilfe nicht notgedrungen jenen zurückgegeben werden, die einen früher unterstützt haben. Sie kann auch an andere weitergegeben werden. Auch das sei Tauschgerechtigkeit: «Diese grundlegende Hilfsbereitschaft und Solidarität sollte nicht nur in der Familie stattfinden.»
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Erhaltene Hilfe an andere Menschen weiterzugeben, ist heute unter anderem deshalb so wichtig, weil Familien häufig nicht mehr am selben Ort leben. Die eigenen Eltern zu pflegen oder die Enkelkinder zu hüten, ist wegen der geografischen Distanz häufig ein grosses Problem.
Bereicherung statt Verlust
Es werde zunehmend notwendig, dass betagte Menschen von Nachbarn gepflegt werden. Die Eltern dieser Nachbarn, die irgendwo weit entfernt wohnen, wiederum dort von Nachbarn Hilfe erhalten, sagt Pasqualina Perrig-Chiello: «Wir müssen vermehrt auf Wahlverwandtschaften setzen, auf Nachbarschaftshilfe, auf kleine Kommunen, die sich gut versorgen und zueinander schauen.»
Ohne dieses Zueinanderschauen und das Weitergeben von empfangener Hilfe werde es in Zukunft nicht mehr gehen, sagt die Entwicklungspsychologin. Und das ist gut so, fügt der Moralphilosph Otfried Höffe bei.
Geben tue gut – auch dem Gebenden: «Freigiebigkeit ist seit der Antike eine grosse Tugend. Im Wort Freigiebigkeit klingt ja auch der Begriff der Freiheit an. Es ist ein Ausdruck von Freiheit, grosszügig zu sein. Mit dem Geben erhöht man somit auch seine Selbstachtung.»
Denn was die Philosophen der Antike schon wussten, gilt also auch heute noch: Grosszügigkeit ist eine Bereicherung. Kein Verlustgeschäft.