Rolf Schieder, Sie sagen, Religionen sind nicht gefährlich, sondern riskant. Weshalb?
Rolf Schieder: Wir verzeichnen weltweit ein Wachstum an Religionen. Eine neue Untersuchung von Geopolitikern setzt sich mit der Frage auseinander, in welchen Regionen die religiöse Pluralisierung zu Konflikten führt. In Brasilien beispielsweise ist in den letzten 50 Jahren ein radikaler Wandel vorangegangen. Die katholische Kirche hat ca. 25 Prozent ihrer Mitglieder an evangelikale Gruppen verloren. Weil in Brasilien Religionsfreiheit herrscht, ist dieser Wandel jedoch friedlich verlaufen.
Die Religion ist jedoch immer mehr mit Gewaltakten verbunden, wenn man an die Terrorgruppe Islamischer Staat denkt.
Im Grunde glauben Terroristen, Menschen um sich zu haben, die ihnen zustimmen und sich lediglich nicht trauen, ihrem Beispiel zu folgen. Im Grunde sind alle Muslime aufgerufen, sich nicht als Märtyrer zu fühlen und klar zu signalisieren, dass die IS-Milizen Gewalttäter sind.
Scheuen die Kirchen grundsätzlich solche Diskussionen?
Eigentlich habe ich den Eindruck, dass die Christen eine hohe Bereitschaft haben, sich zur Gewaltgeschichte ihrer eigenen Konfession zu bekennen. Man wagt oft nicht mehr, auf die Friedenspotenziale der eigenen Religion zu blicken. Es existieren auch Bewegungen innerhalb des Christentums, die versuchen, zu Konfliktlösungen beizutragen.
Trägt das digitale Zeitalter auch dazu bei, dass man sich von religiösen Strömungen leichter beeinflussen lässt?
Wir leben in einer Zeit, in der sich nahezu jeder empört. Ich würde mir wünschen, dass die Menschen wieder mehr nachdenken und ein wenig abrüsten, wenn es darum geht, sich emotional zu erregen. Gerade im Blick auf den Islam sind Christen oft der Meinung, zwischen beiden Konfessionen bestünden erhebliche Unterschiede.
Dann sehen Sie keine unüberbrückbare Kluft zwischen Islam und Christentum?
Ich will beide Religionen keinesfalls vermengen. Aber die These, die man manchmal aus christlichem Munde hört, dass der Islam notwendigerweise gewalttätig sein müsse, wird schon durch die Existenz von muslimischen Gläubigen in der westlichen Welt und in den USA widerlegt, die eben ihrerseits nicht zu Radikalität neigen.
Wie lernt man zwischen Fanatismus und überzeugter Religionshaltung zu differenzieren?
Ich bin als Religionspädagoge in Berlin tätig und deswegen dürfte es niemanden überraschen, wenn ich die Meinung vertrete, dass wir Religionen am besten zivilisieren, indem wir Menschen religiös bilden. Die Bildung kann als Fundamentalismus-Prophylaxe betrachtet werden. Die Menschen sollten nicht im Namen Gottes tätig werden, sondern sich bewusst sein, dass dieser im Himmel ist und sie selbst auf Erden.
Können Sie diesen Gedanken näher erläutern?
Wenn man die Bibel aufmerksam liest, wird bereits im ersten Kapitel deutlich, dass die Ursünde des Menschen darin besteht, wie Gott sein zu wollen. Es geht darum, dem Allmächtigen fragend, betend oder bittend zu begegnen – ohne eine Anspruchshaltung einzunehmen.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Blickpunkt Religion, 23.11.14, 8 Uhr