«Frauenkarte» hin oder her: Hillary Clinton ist nicht die erste Frau, die als US-Präsidentin kandidiert. Bereits 1872 kandidierte die 34-jährige Victoria Woodhull für das höchste Amt der Vereinigten Staaten – in einer Zeit, in der es Frauen verboten war, an Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen: eine ungemeine Provokation.
Alles andere als bürgerlich bieder waren aber nicht nur Woodhalls Ambitionen, sondern auch ihr Lebenslauf: Geboren wurde sie 1838 als eines von zehn Kindern in eine Familie von Kleinkriminellen, und war von Beginn an nicht an bürgerliche Geschlechterrollen gebunden.
«Niemand hat von Victoria und ihren Schwestern erwartet, dass sie gesittet und damenhaft in der Ecke sitzen und stricken», sagt Antje Schrupp, die eine Biografie über Woodhull verfasst hat. Stattdessen besserte Woodhull bereits als Kind den Haushalt ihrer mittellosen Familie auf, indem sie ihre Dienste als Hellseherin und Medium anbot.
Eine spiritistische Heilerin
Neben dem Umstand, dass sie sich als spiritistische Heilerin mit den alltäglichen Problemen von Frauen aller Gesellschaftsschichten auskannte, gab es einen zweiten Faktor für Woodhulls ungewöhnliche Karriere: Nachdem sie sich von ihrem ersten Mann, einem Alkoholiker, geschieden hatte, verliebte sie sich in den Intellektuellen James Blood. Durch den wohlhabenden Kriegsveteranen lernte Woodhull nicht nur politische Theorien und sozialreformerische Ideen kennen, sondern erhielt auch Zugang zu den gehobenen Kreisen.
1872 kandidierte Woodhull für die «Equal Rights Party», die gleiche Rechte für Schwarze und für Frauen forderte, für das Präsidentenamt. «Es gab damals wie auch heute eine grosse Unzufriedenheit über das Zwei-Parteien-System», sagt Biografin Antje Schrupp. Frauenrechtlerinnenen, Sozialisten, Spiritstinnen und Anhänger der Anti-Sklaverei-Bewegung stellten Woodhull daher als alternative Kandidatin auf: «Ihr war aber bewusst, dass sie keine ernsthaften Chancen hatte, gewählt zu werden.»
Ihre Kandidatur war Provokation
Als 1872 gewählt wurde, sass Woodhull im Gefängnis: Fadenscheinig verurteilt für das Verbreiten von Obszonitäten in der Zeitung, die sie damals herausgab. Wie viele Stimmen sie erhielt, ist nicht bekannt. Ihre Kandidatur war ein symbolischer Akt, um ihre Unzufriedenheit mit dem politischen Etablishment auszudrücken; um Kritik zu üben an den zu klein gesteckten Zielen der bürgerlichen Frauenrechtsbewegung: Woodhull wollte nicht nur das Wahlrecht für Frauen zu erkämpfen, das 1920 eingeführt wurde. Sondern auch die Möglichkeit, als Frau über das eigene Privatleben und Einkommen zu bestimmen.
Diese unkonventionellen Ideale lebte sie auch selbst: Gemeinsam mit ihrer Schwester Tennessee gründete sie eine Brooker-Firma an der Wall Street. Das Startkapital hatte sie sich beschafft, indem sie von Prostituierten abgehörtes Insiderwissen an den steinreichen Eisenbahnmogul Cornelius Vanderbilt weitergab.
Ihre Themen haben sich noch nicht erledigt
Dass sie in ihrem Privatleben neben ihrem Ehemann zahlreiche Geliebte hatte, brachte sie auch bei politisch Gleichgesinnten in Verruf. Da die amerikanische Frauenbewegung sich lange Zeit schwer tat mit dieser kontroversen Frau, die radikal für ihre sozialistischen Ideale und die freie Liebe einstand, erinnert man sich heute kaum mehr an ihre Bedeutung, obwohl sie zu ihrer Zeit sehr berühmt war.
Für Antje Schrupp bleibt Woodhull bis heute interessant: «Ihre Themen, wie sexualisierte Gewalt, Armut oder Prostitution, haben sich noch nicht erledigt.» Im Wahlkampf haben sich im Vergleich zu Woodhulls Zeiten die Verhältnisse allerdings umgekehrt, bemerkt Antje Schrupp: «Clinton positioniert sich im Wahlkampf als Vertreterin des Establishments, während ihre Gegenkandidaten, die beiden weissen, alten Männer Trump und Sanders, sich als die Revolutionäre und die Angreifer des Establishments darstellen.» Was kann Clinton von ihrer Vorstreiterin Victoria Woodhull lernen? «Dass es darauf ankommt, dass man sich gerade nicht den Spielregeln anpasst, sondern den eigenen Ideen treu bleibt – auch auf das Risiko hin, sich damit unbeliebt zu machen.»