Peter Gysling, am 9. Mai feiert Russland mit einer pompösen Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau den Sieg über Hitler-Deutschland vor 70 Jahren. Inwiefern wird dabei auch dem damaligen Oberbefehlshaber Josef Stalin gedacht?
Offiziell ist Stalin bei diesen Feiern kein Thema. Aber bestimmt werden in Moskau oder St. Petersburg vereinzelt ehemalige Kriegsveteranen Stalinhelgen mit sich tragen und so deutlich machen, dass sie der Meinung sind, man müsse am 9. Mai auch Stalin gedenken. In offiziellen Reden wird Stalin aber kaum vorkommen.
Wie schätzt die Mehrheit der Russinnen und Russen Josef Stalin ein – als erfolgreichen Kriegsherrn oder als Verbrecher?
Aufgrund der derzeitigen Staatspropaganda und der vielen Kriegsfilme, die von morgens früh bis abends spät am russischen Fernsehen laufen, rücken die Verbrechen Stalins im Bewusstsein vieler Russinnen und Russen in den Hintergrund. Obwohl seine Kriegsführung in vielen Momenten alles andere als professionell war. Stalin gilt in den Augen vieler primär als erfolgreicher Kriegsherr und Manager.
Inwiefern wurde der Stalinismus in Russland unter Wladimir Putin umgedeutet?
Unter Putin bemüht man sich gezielt, die russische und sowjetische Vergangenheit in den Geschichtsbüchern und im Schulunterricht möglichst unkritisch darzustellen. Alle Figuren – von den Zaren bis zu den Sowjetführern – werden als wichtige Stütze des heutigen russischen Staates dargestellt, mit Ausnahme von Michail Gorbatschow. Diese Art von Geschichtsschreibung soll zu einem möglichst breit getragenen und unkritischen Patriotismus beitragen.
Gibt es Gegner dieser Geschichtsschreibung?
Zwar gibt es Menschenrechtsorganisationen wie etwa «Memorial», welche sich den Opfern des Stalinismus annehmen und die Ereignisse unter Stalin ausleuchten. Weil im Russland unter Putin Kritik am Staat und seiner Geschichte als gefährdend gewertet wird, werden solche Gruppierungen von den Behörden – und damit auch von einer immer breiteren Schicht der Bevölkerung – als Teil einer vom Westen gesteuerten «fünften Kolonne» wahrgenommen. Dies hat hier in den vergangenen Monaten ein Klima geschaffen, in dem Stalin fast wieder salonfähig geworden ist – trotz seiner Verbrechen am eigenen Volk.
Wie zeigt sich dies konkret?
Auf einem Sonntagsspaziergang zum Kreml habe ich kürzlich in einer Kioskauslage beim Alexandergarten in Moskau T-Shirts mit dem Konterfei von Stalin entdeckt. Sie wurden in unmittelbarer Nachbarschaft mit T-Shirts angeboten, auf denen der russische Präsident Wladimir Putin verehrt wird. Solche Präsentationen sorgen hierzulande nicht mal für ein zaghaftes Kopfschütteln.
Was hat die derzeitige Regierung davon, wenn sie Stalin verharmlost anstatt dessen Verbrechen unmissverständlich zu benennen und zu verurteilen?
Die Ablehnung von Kritik an der eigenen Geschichte und auch an der aktuellen Regierungspolitik marginalisiert die liberale Oppositionsbewegung. Diese war 2011 in der russischen Mittelschicht entstanden, als Putin ein drittes Mal seine Kandidatur fürs Präsidentenamt bekannt gegeben hatte. Das heutige Regierungsregime versucht, das Volk geschlossen hinter sich zu scharen. Wer ausschert, gilt als Vaterlandsverräter. Offenbar hat man den Eindruck, eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte könne diesen «patriotischen Prozess» stören. Die schwierigen Stalin-Kapitel werden deshalb gezielt ausgeklammert und möglichst aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verbannt.
Wie verbreitet sind im heutigen Russland jene Stimmen, die noch an die monströsen Verbrechen des Stalinismus erinnern?
Sie sind marginal, werden marginalisiert, allenfalls gebrandmarkt. Kürzlich ist in der Stadt Perm im Ural das Gulag-Museum mit staatlicher Unterstützung umorganisiert worden. Früher hat man dort den Verbrechen Stalins gedacht, den Inhaftierten, den Geschundenen. Nach der staatlich orchestrierten Neuausrichtung des Museums widmet sich die Ausstellung heute insbesondere dem schwierigen Arbeitsalltag der Lageraufseher.