SRF: Sie sind gerade aus der Türkei zurückgekehrt. Wie blicken Sie auf Ihre Reise zurück?
Regula Venske: Ich bin mit einem bangen Gefühl hingefahren. Vor Ort ist dieses dann der Empörung gewichen, aber auch der Fassungslosigkeit angesichts des Ausmasses, mit dem rechtstaatliche Grundsätze ausser Kraft gesetzt worden sind, und wie Menschenrechte mit Füssen getreten werden. Ich will aber nicht vergessen, dass ich auch mit dem Gefühl eines grossen Respekts zurückgekommen bin. Denn ich habe viele tolle Menschen getroffen, mit einer wirklich bewunderungswürdig aufrechten Haltung und sogar mit Humor. Und das, obwohl einige der Gesprächspartner nicht einmal mehr sagen konnten, wie viele Anklagen gerade gegen sie laufen, weil sie das selbst gar nicht mehr überblicken.
Sie waren auf einer sogenannten «fact finding mission», gemeinsam mit Kollegen von anderen NGOs. Wie muss man sich das genau vorstellen?
Wir haben unsere Gesprächspartner in deren Räumen getroffen. Das waren beispielsweise die Journalistenassoziation, Zeitungs- oder Fernsehredaktionen. Wir haben viel Tee getrunken, es wurde auch gelacht. Da ist ein bewundernswerter Galgenhumor bei vielen Journalisten. Aber natürlich haben sie auch erzählt, wie sehr sie entsetzt sind, wie viele Menschen einknicken und dann kuschen oder Angst haben. Man merkt dann, wie so etwas funktioniert, wie die Menschen eingeschüchtert werden und wie viele die Fahnen wechseln.
Kann man in der Türkei in diesen Tagen noch frei und kritisch schreiben?
Die ganz Kritischen haben gesagt: Nein. Es gibt trotzdem Menschen, die das weiter tapfer versuchen – aber dann auch bereit sind, einen Preis dafür zu zahlen und vielleicht auch zahlen müssen.
Artikel zum Thema
- Asli Erdogans Brief aus dem Gefängnis an SRF Asli Erdogans Brief aus dem Gefängnis an SRF
- Autorin Asli Erdogan: Sie sitzt ein, weil sie aufrecht ist Autorin Asli Erdogan: Sie sitzt ein, weil sie aufrecht ist
- Erstickt der freie Journalismus in der Türkei? Erstickt der freie Journalismus in der Türkei?
- In der Türkei herrscht ein Klima der Angst In der Türkei herrscht ein Klima der Angst
Die in der Schweiz bekannte Schriftstellerin Asli Erdogan befindet sich seit Mitte August ebenfalls in Haft. Am Freitag hiess es, sie stehe kurz vor der Freilassung. Jetzt sitzt sie immer noch in Haft. Was wissen Sie darüber?
Ich war am Freitagnachmittag selbst bei einer Mahnwache vor dem Gefängnis, in dem sie in einer Zelle mit der bekannten Linguistin Necmiye Alpay sitzt. Wir hoffen, dass sie bald freikommt. Ihr Anwalt hat einen Antrag auf Freilassung aus medizinischen Gründen gestellt. Das heisst nicht, dass dann der Prozess nicht stattfinden wird. Das ist ja noch die Untersuchungshaft, die man ihr jetzt ersparen möchte.
(Ergänzung d. Red.: Gemäss einem Bericht der Agentur AFP vom Montagabend wurde der Antrag auf Entlassung aus der Untersuchungshaft von einem Gericht in Istanbul abgelehnt. Wann der Prozess stattfinden soll, ist noch nicht klar. Eine offizielle Anklage gibt es laut einem von AFP zitierten Anwalt noch nicht. Das Gespräch mit Regula Venske wurde am Sonntagabend geführt.)
Was glauben Sie: Wann kommt es zu einer Entspannung der Situation in der Türkei, wenn überhaupt?
Unser Fazit in der Gruppe war eher, dass man einen langen, langen Atem brauchen wird und dass noch lange nicht der Höhepunkt erreicht ist. Das wird einige Jahre dauern, fürchte ich. Natürlich hoffen wir immer auf schnellere Wendungen, aber ich glaube, wir müssen uns darauf einstellen. Wenn man sich die Geschichte früherer Putsche in der Türkei anschaut ... Das ist nicht von heute auf morgen beendet. Es ist ja ein Mehrfrontenkrieg, der da geführt wird. Einerseits nach innen hin, und andererseits eben nach aussen. Das wird uns, glaube ich, noch sehr viel Kraft abverlangen.
Sendung: Radio SRF2 Kultur, Kultur kompakt, 5.9.2016, 7.20 Uhr