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Gesellschaft & Religion Türkische Parteien sind mit Windeln auf Stimmenfang

In der Türkei stehen die Kommunalwahlen vor der Tür. Und damit hat auch wieder das grosse Geschenke verteilen begonnen: Die Parteien versuchen, das Volk mit Windeln, Uhren und Steueramnestien für sich zu gewinnen. Für die Türken nichts Neues.

Die Kommunalwahlen am 30. März gelten als eine der wichtigsten Abstimmungen in der jüngeren Geschichte der Türkei. Sind sie doch seit den Gezi-Protesten vom vergangenen Sommer der erste wirkliche Hinweis darauf, wie gross die Macht von Ministerpräsident Erdogans AK-Partei tatsächlich noch ist. Auch gelten sie als Generalprobe für dessen Plan, sich nach einer Verfassungsänderung im Sommer zum allmächtigen Präsidenten des Landes wählen zu lassen – eine Horrorvorstellung für seine Gegner.

Fahrräder für die Kleinen, Steueramnestien für die grossen

Umso mehr heisst es also in diesen Tagen am Bosporus: Jede Stimme zählt! Türkische Parteien haben dabei ihre ganz eigenen Wahlkampfstrategien. Streichhölzer oder Babywindeln, Brot, Kinderfahrräder oder Armbanduhren: Die Liste dessen, was sie in diesen Tagen an potenzielle Wähler verteilen, ist lang und die Waren, die darauf stehen, sind teuer. Im verarmten Südosten des Landes durfte sich die Bevölkerung vor vier Jahren gar über Kühlschränke und Waschmaschinen freuen, die die AKP-Regierung von Ministerpräsident Erdogan lastwagenweise verteilte. Immer deutlich mit dem Parteilogo versehen.

Selbst landesweite Steueramnestien dienen türkischen Regierungen gern als Stimmenköder. Ebenso nachträglich erteilte Baugenehmigungen. Gerade in Städten wie Istanbul macht das viele Bürger glücklich: Weniger als 1 Million Einwohner lebten hier im Jahr 1950. Heute sind es mindestens 13 Millionen. Für die unzähligen Häuser, die die Zuwanderer aus allen Winkeln des Landes gebaut haben, hatten sie meist keine Bewilligung. «Aber dann, kurz vor den Wahlen, erklärte die Regierungspartei von einem Tag auf den anderen, dass alle Häuser in unserem Viertel ab sofort legal seien», erinnert sich der 32-jährige Fatih. Für die meisten seiner Nachbarn stand damit fest, wo sie am nächsten Tag ihre Kreuzchen machen würden.

Tradition seit Sultans Zeiten

Nun wäre es jedoch falsch zu denken, dass die Kultur des Schenkens erst unter Ministerpräsident Erdogan Einzug gehalten hätte. Nein, dass sich Politiker plötzlich in Weihnachtsmänner verwandeln, ist ein parteiübergreifendes Phänomen in der Türkei. «Dass die Bürger genug zu Essen oder ein Dach über dem Kopf haben, gehört ja eigentlich zur Verantwortung einer guten Regierung», bemerkt Politologin Pinar Semerci von der renommierten Bilgi-Universität in Istanbul. «Aber in der Türkei stellen die Politiker es gern hin, als käme die Hilfe aus ihrem persönlichen Partei-Budget.»

Und das nicht erst in Zeiten, in denen es Kühlschränke und Waschmaschinen gibt. Bis in die Zeit des Osmanischen Reichs lässt sich die strategische Grosszügigkeit am Bosporus zurückverfolgen, weiss Politologin Semerci. Das Geschenkeverteilen hat also Tradition. Mit dem kleinen Beigeschmack natürlich, dass die Türkei heute eigentlich nicht mehr von einem Sultan, sondern von einem demokratisch gewählten Ministerpräsidenten regiert wird.

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