Die Kirchen Ungarns verstehen sich nicht als Opposition zum Staat. Denn sie erhalten von der Regierung Geld für ihre Sozialarbeit: Rund 1,2 Milliarden Franken wird ihnen in den kommenden sechs Jahren aus EU-Fördergeldern ausgezahlt. Dafür sollen die Kirchen sich um Bildung und Kultur kümmern, aber auch um Behinderte, Altersarme und natürlich um die Roma. Doch der Plan funktioniert nur mässig.
Die Roma bleiben trotzdem draussen
Die Roma stellen die grösste Gruppe unter den 13 anerkannten ethnischen Minderheiten in Ungarn. 2011 wurden 315‘583 Angehörige des Romavolkes in Ungarn gezählt, es könnten aber auch eine halbe Million sein. Die grossen Romafamilien leben buchstäblich am Rande der Gesellschaft, in eigenen Siedlungen schlechtester Bausubstanz. Am Analphabetismus und der hohen Sterblichkeit hat sich wenig verbessert, obwohl die Gelder aus dem Westen seit langem und nicht eben spärlich fliessen.
Das hat wesentlich mit dem in Ungarn weit verbreiteten Antiziganismus (Rassismus gegen Roma und andere Stämme) zu tun. Kirchenchristen machen hier leider keine Ausnahme. Und darum harzt so manches Hilfsprojekt bei den Roma auch daran, dass es bei den ungarischen Nachbarn keinen Rückhalt findet.
Hilfe aus der EU und aus der Schweiz
Die harsche Kritik aus dem Westen an der Regierung Viktor Orbáns mag man in Ungarn nicht teilen. So ist jedenfalls die Sicht des reformierten Bischofs von Debrecen, Gusztáv Bölcskei. Er war kürzlich am alljährlichen Osteuropatag des HEKS zu Gast, das viele Sozialprojekte in Ungarn unterstützt. Orbán vertrete «christliche Werte», dagegen könne man nichts haben, erklärte Bölcskei. Dass Orbán Werte wie Vaterland, Christentum, Familie, Treue, Glaube, Liebe und Nationalstolz in die neue Verfassung nahm, entsprach auch der Weltanschauung vieler ungarischer Reformierter.
Reformierte wählen Orbán
Die Reformierten gehören also zur Wählerschaft des Ministerpräsidenten Orbán. Dass dieser den reformierten Pfarrer Zoltan Balog zum Minister im neu geschaffenen Ministerium für Roma-Integration ernannte, erstaunt daher nicht. Im Westen ist man allerdings zunehmend frustriert, dass nach bald zwei Jahrzehnten Fördermitteln so wenig erreicht wurde für ein substantielle Verbesserung und Integration der Roma in Ungarn.
Kein Klartext von den Kirchen
Das heutige Ungarn leidet an einer Wirtschafts- und Gesellschaftskrise wie selten zuvor. Die Emigration steigt eklatant an. Besonders viele von den wenigen Juden verlassen das Land, wenn sie können. Ein Grund ist der alltägliche und aggressive Antisemitismus auf den Strassen. Auch sonst leidet das Land unter dem Brain-Drain junger, leistungsstarker Akademiker, vor allem der Ärzte und Zahnärzte.
Die Kirchen sehen sich hier als wichtige Player im Aufbau einer Zivilgesellschaft. Sie halten auch viele Bildungsinstitutionen in ihren Händen. Leider nur sind klare Worte gegen Antisemitismus und Antiziganismus aus den Kirchen selten oder zu wenig nachdrücklich. Eine Ausnahme ist der römisch-katholische Kardinal Péter Erdő, der immer wieder ethischen Klartext spricht.
Nur Protest, wenn es um die eigene Autonomie geht
Dem reformierten Bischof Bölcskei ist an Harmonie mit der Regierung gelegen. Befragt nach den Gesetzen und Verfassungsrevisionen, die Menschenrechtler aufschreien liessen, bleibt er ruhig und beschwichtigend. Gemeinsam mit anderen Kirchen zur Wehr gesetzt hat er sich aber, als es um die Wahrung kirchlicher Autonomie ging. Und ebenfalls, als die Regierung die anglikanische und methodistische Kirche nicht mehr öffentlich-rechtlich anerkennen wollte. Denn das hätte einen Stopp der staatlichen Gelder bedeutet. Die Kirchen setzten sich ferner beim Kirchengesetz durch. Auch da ging es um die Wahrung kirchlicher Autonomie.