Herr Andruchowytsch, Sie sind derzeit in Berlin – wann waren Sie zuletzt in der Ukraine?
Jurij Andruchowytsch: Ich war vor 10 Tagen im ukrainischen Westen auf einer Lesetour. Da habe ich auch einige Tage bei mir zu Hause verbracht und an den Wahlen teilgenommen. Das Leben fühlte sich wieder ganz normal an. Das ganze Drama entwickelt sich derzeit ja in zwei Gebieten im Osten der Ukraine. Allerdings gibt es auch im Westen immer wieder Bestattungen von ukrainischen Soldaten.
Maidan heisst der zentrale Platz in Kiew. Heute ist Maidan eine Art Kurzformel für die Revolution in der Ukraine. Was symbolisiert heute der Maidan für Sie?
Das ist schon zum zweiten Mal, dass dieser Ort eine besondere Rolle in unserer jüngsten Geschichte spielt. Auch während der Orangen Revolution im Jahr 2004 stand ich auf dem Maidan. Damals gab es keine Gewalt, es war eine fast karnevaleske, spielerische Revolution. Man kann das nicht mit der neuen Bewegung vergleichen. Heute ist der Maidan für mich vor allem eine immer noch offene Wunde, viel Schmerz. Im Wort ist dieses konzentrierte Verbrechen des Regimes gegen das Volk immer noch stark spürbar. Man muss sich nur die demolierten Gebäude ansehen. Auch die Farbe des Platzes ist immer noch schwarz.
Sie haben von der «massenhaften Rückkehr der Menschen zum Menschlichen» gesprochen. Das ist doch ein optimistisches Bild?
Ja, prinzipiell bin ich optimistisch. Diese Bewegung hat ein Wunder vollbracht: Sie hatte überhaupt keine Chance, und trotzdem hat sie das Regime beseitigt. Das ist nur dank Tapferkeit und Solidarität gelungen. Mit der Maidan-Revolution werden sich die Fachleute beschäftigen müssen, um die psychologischen und gesellschaftlich-politischen Aspekte genau zu verstehen.
Alles, was wir über den Maidan sagen oder schreiben, reicht im Prinzip nicht aus. Es bleibt anekdotisch. Um weitere Schlüsse zu ziehen, braucht es Distanz. Aber man kann jetzt schon sagen: Das war eine beispiellose Leistung der ukrainischen Bürger.
Sie schildern in Ihrem Text in «Euromaidan», wie eine Volontärin des Sanitätsdienstes auf dem Maidan Telefonrufe annehmen musste, die auf die Mobiltelefone der Gefallenen eingingen. Das sind starke Erfahrungen.
Die Leute, die dort gefallen sind, waren sehr motiviert. Sie wollten sich einsetzen für ein freies Land. Manche bauten Barrikaden und verbrannten Autoreifen, andere bastelten Molotow-Cocktails. Und alles funktionierte in einem Prozess, bei dem niemand an die persönliche Gefahr dachte. Es war erstaunlich, wie die Leute sich um die Nächsten kümmerten, aber kaum um sich selbst. Ich glaube, das ist eine typische Befindlichkeit in solchen Momenten: Man denkt voller Angst an die Gefahr für die Nächsten, aber nicht an die Gefahr für einen selber.
Mykola Rjabtschuk hat es in ihrem Text für «Euromaidan» ganz einfach formuliert: Das Ziel ist es, in einem Rechtsstaat ein «normales Leben in einem normalen Land» zu führen?
Genauso ist es. Eine andere Autorin , Tanja Maljartschuk , erzählt, wie sie seit ihrer Kindheit immer diese Angst hatte, die Tür eines Beamtenbüros zu öffnen. Mit diesem Gefühl lebten die Leute jahrzehntelang. Die Maidan-Bewegung ist ein dramatischer Versuch, das zu beenden. Und eben normal zu leben in einem normalen Land.
Sind Sie diesem Ziel heute näher?
Eindeutig. Dieser zweite Euromaidan ist viel skeptischer gegenüber den Politikern als jener von 2004. Die oppositionellen Parteiführer standen diesmal nicht als Retter des Volkes auf der Maidan-Bühne. Es gab keinen politischen Messias. Die gesamte Bewegung hat die Aktivitäten formuliert und korrigiert. Es war wichtig, dass wir diesmal keine passive Masse waren wie in 2004. Hoffentlich wird die Gesellschaft weiterhin alle Bewegungen der neuen Regierung kontrollieren. Wir haben nun die Erfahrung, wie man das macht.
Welche Rolle spielen die Künstler und Schriftsteller innerhalb der Maidan-Bewegung?
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Wenn bekannte Künstler auf dem Maidan ihr Leben riskierten und mit halfen Barrikaden zu bauen, war das für die Leute eine Bestätigung. Künstler haben auch Lesungen veranstaltet, Filme gezeigt, die Zeitungen herausgegeben usw. Ich habe aus meinen Romanen vorgelesen und viel mit der Bürgerwehr diskutiert. Für die Teilnehmer der Proteste war die Autorität der Künstler am Ende grösser als die der Politiker. Das klingt sehr idealistisch, aber ja, der Idealismus war so stark, dass er die Realität verändern konnte.
Vor kurzem hat die Ukraine den Schokolademilliardär Viktor Poroschenko zum neuen Präsidenten gewählt. Die Maidan-Bewegung ist aber für Freiheit und gegen die Oligarchen angetreten…
Eine gewisse Skepsis ist angebracht. Aber ich muss präzisieren, dass die westlichen Medien das Klischee des Schokoladenkönigs arg strapazieren. Poroschenko ist ein erfahrener Politiker aus dem oppositionellen Kreis, er stand Präsident Juschtschenko nahe. Er war kurz Aussenminister und ist ausgebildeter Diplomat. Oligarch ist er allerdings, weil er Milliardär ist und eigene Medien besitzt.
Wir sollten jetzt kontrollieren, ob er seine Versprechungen hält. Verkauft er sein Unternehmen, wie er es vor der Wahl angekündigt hat? Ich habe für ihn gestimmt. Ich hatte ihn ein paar Mal getroffen und bekam den Eindruck, dass er richtig und pragmatisch denkt. Er ist kein Extremist und wirkt als Diplomat international sehr gut. Er passt zum jetzigen Zeitpunkt am besten. Im Vergleich zu Julia Timoschenko ist es ein Schritt nach vorne.