SRF: Das Verhältnis vom Menschen zur Natur ist komplex. Das sehen wir auch in gegenwärtigen Klimadebatten. Was hat der Mensch heute für eine Beziehung zur Natur?
Andreas Weber: Ich habe aufgehört, von «Natur» zu sprechen und halte es für sehr wichtig, dass wir insgesamt damit aufhören.
Der Grund: Dadurch entwerfen wir die Natur immer als etwas Anderes, etwas da draussen, als ein Gegensatz zu uns selbst. Doch einen solchen Gegensatz gibt es nicht, wir können schlicht keine Grenze ziehen. Wir selbst sind ein Teil der Natur.
Wir alle sind Teilnehmer an einem grossen Prozess schöpferischer Verwandlung. Denn die Natur ist nichts anderes als ein riesiges Ökosystem des gegenseitigen Austausches, sie ist ein gewaltiger Beziehungskosmos, in dem sich beständig Identitäten bilden und andere vergehen. Mit einer Grenzziehung Mensch versus Natur verfehlen wir die Wirklichkeit.
Wir können keine Grenze ziehen zwischen Mensch und Natur.
Dann sehnt sich der Mensch vor allem nach sich selbst, wenn er sich nach draussen in die Natur begibt?
Das kann man so sagen: Der Mensch möchte mit sich selbst in Kontakt treten. Zugleich sehnen wir uns dabei nach dem ganz anderen: zu spüren, dass wir Teil eines kreativen Netzes gegenseitiger Verwandlung sind.
Das ist das, was viele Leute an der Naturerfahrung schätzen – die Bestätigung der eigenen Identität in einem Beziehungssystem.
Meine Beobachtung ist, dass Menschen das Gefühl eines gelungenen Selbstseins auch aus der Verbindung mit anderen gewinnen. Das wird ihnen jedoch zunehmend erschwert.
Worin sehen Sie diese Erschwernis?
Interessanterweise hängt das eng mit Ihrer ersten Frage zur Natur zusammen: Wir definieren uns in der modernen Gesellschaft vermehrt durch Abgrenzung. Etwa durch Leistung, Effizienz, erfolgreiche Konkurrenz und so weiter. Dabei folgen wir offenkundig einem Ideal von Trennung.
Solche Abgrenzungstechniken tun uns und der Welt nicht gut. Wir machen uns unlebendig durch sie, denn wir können nur durch Gegenseitigkeit bestehen.
Die Suche nach sich selbst muss daher immer den Anderen berücksichtigen. Also dessen eigene Suche nach sich selbst. Das ist in meinen Augen ein Bedürfnis alles Lebendigen, welches durch unsere Techniken der Trennung bedroht wird.
Durch Abgrenzung machen wir uns unlebendig.
Man kann heute beobachten, dass Outdoor- und Survival-Aktivitäten sich häufen. Ist das eine Art Rebellion des Menschen gegen die Trennung von der Natur?
Ganz genau. Das ist vergleichbar mit dem, was die Nachhaltigkeitspolitik seit Jahrzehnten erfolgreich versucht. Wir sollten solche Bestrebungen nicht als romantisch belächeln, sondern verstehen, was sich dahinter verbirgt: Ein Versuch, die eigene Identität aus Gegenseitigkeit zu konzipieren.
Ich meine damit nicht nur eine Gegenseitigkeit unter Menschen. Sondern auch mit allem, was wir bisher als Objekte gehandelt haben: etwa Tiere, Pflanzen, Wasser und Luft.
Erst wenn wir in der «Hin zur Natur»-Bewegung erkennen, dass sich darin die Sehnsucht nach gegenseitiger Verbindung verbirgt, wird sich etwas ändern.
Damit ist mitten in der Gegenwart eine zentrale Frage der Romantik aufgetaucht: Wie entsteht das Ich aus dem Zusammenklang des Ganzen? Ob wir die neue romantische Phase für die Zivilisation konstruktiv nutzen können, wird sich erst weisen.
Apropos Romantik: Für wie romantisch halten Sie Nacktwandern? Sind wir mehr bei uns selbst, wenn wir nackt in der Natur stehen?
Na ja, es gibt viele Sehnsuchtswege, die den Menschen näher zum Gefühl des Echt-Seins führen. Ich kann mir zwar vorstellen, dass Nacktwandern ergonomisch nicht ganz ideal ist. Aber mir gefällt die Idee, die darin steckt: Dass wir die Grundausstattung für unser Echt-Sein schon besitzen. Dass wir keine Hilfskonstrukte brauchen, um uns auf uns selbst zu besinnen.
Die Aussage dahinter ist doch toll und vermutlich auch zutreffend: Nackt wie wir sind, sind wir nicht nur in Ordnung, sondern viel verbindungsfähiger. Und genau darum geht es dem Menschen doch ganz grundsätzlich.
In dem Sinne ist Nacktwandern wohl die absolute Verkörperung des Prinzips «Zurück zur Natur».
Die Idee des Nacktwanderns: Wir brauchen keine Hilfskonstrukte, um uns auf uns selbst zu besinnen.
Es gibt ein Gedicht des chilenischen Dichters Pablo Neruda mit dem Titel «Oh Erde, warte auf mich». Muss die Erde auf uns warten oder vielmehr wir auf sie?
Die Erde erwartet uns längst. Sie wartet darauf, dass wir uns ihr endlich wieder schenken.
Das Gespräch führte Olivia Röllin.
Sendebezug:
- SRF 1, Sternstunde Religion, 16.7.17, 10:30 Uhr
- SRF 1, Sternstunde Philosophie, 16.7.17, 11:00 Uhr