Wer in diesem Spätherbst auf den grossen Busbahnhöfen in Istanbul oder Izmir um sich schaut, stösst überall auf Flüchtlinge und Migranten. Meist sind es Gruppen von Menschen aus denselben Herkunftsgebieten, meist werden sie «betreut» von Personen, die wohl Helfer von Schleppern sind.
Auch in der Umgebung des Basmane-Bahnhofs in Izmir verkaufen Strassenhändler Schwimmwesten, Pneus und andere Utensilien, welche für die Fahrt übers Meer von Nutzen sind. Das Geschäft mit den Flüchtlingen wird derart offensichtlich betrieben, dass selbst ein Analphabet ohne Probleme zu seiner Ausrüstung kommt und seinen Schlepper findet.
Die Drehscheibe Izmir
Die Grossstadt Izmir gilt als die zurzeit wichtigste Drehscheibe für die klandestine, also verdeckte, Emigration von der Türkei in Richtung Europa. Das liegt daran, dass die Landroute in Richtung Griechenland und Bulgarien kaum mehr passierbar ist. Wer Genaueres über diese wichtige Flüchtlingsroute erfahren will, muss sich an einen der kleinen Küstenorte gegenüber den griechischen Inseln Lesbos, Chios oder Samos begeben. Dort warten die Kandidaten für eine klandestine Ausreise in abgelegenen Bauernhöfen oder in anderen Verstecken auf den Moment, an dem sie von ihren Schleppern abgeholt werden.
Schleuser machen ihr Geschäft
Wir nehmen einen Augenschein in Assos, einem kleinen Dorf direkt gegenüber der Nordküste der Insel Lesbos, rund 250 Kilometer nördlich von Izmir. Assos hat den Ruf, die zurzeit wichtigste Ablegestelle für klandestine Migranten und Flüchtlinge an der gesamten türkischen Ägäisküste zu sein. Das Schleuserwesen ist in den letzten Monaten zu einem äusserst lukrativen Geschäft geworden. Kenner der Verhältnisse sprechen von einem Umsatz von rund einer Million Euro pro Tag.
In Assos sind weder Journalisten noch Hilfswerke zu sehen. Liegt es daran, dass sich Medien nur in beschränktem Umfang für das Schlepperwesen interessieren? Oder ist es tatsächlich heikel, an solchen Orten zu recherchieren, wie türkische Journalisten warnen?
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Einmal Europa einfach
Auf den Strassen von Assos sind kaum Flüchtlinge zu erblicken. Nur in einem kleinen Lebensmittelgeschäft drängen sich zahlreiche junge Männer. Sie stammten alle aus Afghanistan, erklärt einer in gutem Englisch. Die meisten der jungen Männer wirken kräftig, gesund und unternehmungslustig. Sie decken sich mit grossen Mengen an Brot und Wasser ein, dazu Konserven, Süssigkeiten, Zigaretten. Dann ziehen sie los auf einem Feldweg in Richtung Meer und verschwinden im Küstenwald.
Dort befindet sich, wie der Reporter wenig später feststellen kann, eines der wichtigsten informellen «Durchgangszentren» für Migranten und Flüchtlinge. Mehrere zehntausend Menschen, so Schätzungen lokaler Kenner, haben hier ein paar Nächte verbracht, bevor sie mit Gummibooten auf die etwa zehn Kilometer entfernt gelegene Insel Lesbos «verfrachtet» worden sind.
Von der Küstenwache ist nichts zu sehen
Verschlungene kleine Pfade führen durchs Gelände. Unmengen von Abfall – liegengelassene Kleider, zerschlissene Rucksäcke, Plastikflaschen – und Exkremente zeugen davon, dass hier unzählige Menschen campiert haben.
Es ist halb sechs Uhr abends, kurz vor Sonnenuntergang. Plötzlich sind laute Rufe zu hören. Dann wird mit einem Mal ein improvisiertes Lager sichtbar: Plastikplanen, Rucksäcke, einzelne Zelte, Feuerstellen. Hunderte von Menschen. Überall orange Schwimmwesten. Ein gewaltiges Stimmengewirr erfüllt die kleine Geländekammer. Am Ufer herrscht hektischer Betrieb: Soeben wird ein Schlauchboot ins Wasser geschleppt, während dem ein anderes bereit gemacht wird. Wenig später steigen rund drei, vier Dutzend Männer ins erste Boot. Innert einer halben Stunde legen vier Boote ab, andere werden bereit gemacht. Langsam wird es dunkel.
Von der türkischen Küstenwache ist hier, an einer der wichtigsten Routen der klandestinen Ausreise, nichts zu sehen.