Das Wirken Karls des Grossen (747/48-814) in der zweiten Hälfte des achten und zu Beginn des neunten Jahrhunderts war ein Meilenstein in der europäischen Geschichte, ein Markstein. Denn nach Karl war der Kontinent ein anderer.
Erfolge auf dem Schlachtfeld und in der Politik
Da wären zum einen seine militärischen Erfolge. Als fränkischer König (ab 767) unterwarf er mit Feuer und Schwert Aquitanien und die Gascogne, in Norditalien die Langobarden und im Osten in einem drei Jahrzehnte dauernden Krieg die Sachsen, die er zwangschristianisierte. Auch Bayern verleibte er seinem Reich ein. Weniger erfolgreich war sein Kampf gegen die Mauren in Spanien, was – stark stilisiert – im berühmten «Rolandslied» und anderen Karlsepen auch literarisch nachlebte.
Da wären zum anderen seine staatspolitischen Leistungen. Karl der Grosse schaffte es, dieses riesige Reich nicht nur militärisch, sondern auch politisch zu kontrollieren. Dafür schuf er die nötigen Strukturen, allen voran die Grafschaftsverfassung von 782, durch die er den Grafen zwar verbindlich Rechte übertrug, sie aber auch streng in die Pflicht nahm und ihnen strikte Loyalität abverlangte. Neu war auch, dass er durch die sogenannten «Kapitularien» schriftlich und für alle verbindlich Gesetze erliess.
Reformen für Wissen, Staat und Kirche
Auch seine umfassenden kulturellen Reformen, oft als «Karolingische Renaissance» bezeichnet, liess Karl der Grosse schriftlich formulieren: In der «Admonitio generalis» (der «allgemeinen Ermahnung») erteilte er im Jahr 789 den Bischöfen, dem übrigen Klerus, den weltlichen Würdenträgern und dem Volk den Auftrag, Schulen aufzubauen, um seinem Reformprogramm zum Durchbruch zu verhelfen.
Alkuin von York, einer der bedeutendsten Gelehrten jener Zeit, war an der «Admonitio generalis» massgeblich beteiligt. Er war einer der gebildeten Männer, die Karl der Grosse aus dem ganzen Reich an seinen Hof holte, um das Wissen, den Staat und die Kirche neu zu ordnen.
Geniestreich Bibel-Vereinheitlichung
Grundgedanke der karolingischen Bildungsreform war, einen gültigen Bibeltext zu schaffen und eine Liturgie, die für alle Reichsteile einheitlich sein sollte. «Ein innenpolitischer Geniestreich» sei das gewesen, sagt der Zürcher Kunsthistoriker Georges Descoeudres, der zur Ausstellung «Karl der Grosse in der Schweiz» ein umfassendes Buch mitherausgegeben hat. Denn die Vereinheitlichung von Bibeltext und Liturgie wirkte einigend auf Karls Vielvölkerstaat. Dieser war eben erst dabei, sich aus einzelnen, oft verfeindeten Stammesfürstentümern in ein Kaiserreich mit starken zentralistischen Elementen zu wandeln.
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Was die Vereinheitlichung der Liturgie betrifft, so erklärte Karl den stadtrömischen Ritus für allein gültig. Das Römisch-Katholische ist eine karolingische Idee. Regionale Besonderheiten wie der gallikanische Ritus fielen diesem Federstrich zum Opfer.
Sprachliche Korrektheit und neue Schrift
Die Arbeit am gültigen Bibeltext hatte tiefgreifende Folgen, denn diese Textfassung bedingte sprachliche Korrektheit und gute Lesbarkeit. Die Klosterschulen, die die Reformen massgeblich mittrugen, hatten fortan grossen Wert auf korrekte lateinische Ausdrucksweise zu legen. Das bedeutete, dass sie sich sprachlich stärker an den Vorbildern früherer Zeiten, insbesondere der sogenannten «Kirchenväter» der Spätantike orientierten. Etwa an Augustinus, Leo dem Grossen, an Gregor und an Isidor von Sevilla. Und um Fehler beim Abschreiben der religiösen Texte zu vermeiden, schufen Karls Schreiber eine neue Schrift, die «karolingische Minuskel», Basis der heutigen Antiqua-Schriften und der Times.
Längerfristig führten diese strengeren Sprachstandards dazu, dass sich Volkssprachen und Latein stärker voneinander absetzten. Die karolingische Lateinreform hatte also zur Folge, dass sich das Deutsche und das Französische eigenständiger entwickelten. Die «Strassburger Eide» von 842, knapp drei Jahrzehnte nach Karls Tod abgefasst, bestanden aus einem frühen althochdeutschen Sprachzeugnis – und dem ersten in französischer Sprache überhaupt.
Klosterreform, Strassenbau und arbeitsfreier Sonntag
Auch hinsichtlich der in Klöstern geltenden Regeln war Karl auf Vereinheitlichung bedacht. Er ersetzte die grosse Zahl von meist kolumbanisch-benediktinischen Mischregeln, die zu merowingischer Zeit üblich waren, durch die weniger asketische Benediktsregel.
Andere Reformen betrafen etwa den Strassenbau, das Münzwesen, ja auch der arbeitsfreie Sonntag ist eine karolingische Erfindung. Bei all diesen Neuerungen profitierte Karl zwar von Vorarbeiten seines Vaters Pippin (714-68), doch kamen ihm dabei sein «ausgeprägter Herrscherwille» und sein «starkes Sendungsbewusstsein» zugute, wie es Peter Stotz, emeritierter Professor für Lateinische Sprache und Literatur des Mittelalters, formuliert. Und natürlich der «Think Tank» in Gestalt der Kapazitäten, die er um sich versammelt hatte.
Karl als christlich-abendländischer Herrscher
Karl verstand und positionierte sich durch seine militärischen und bildungspolitischen Taten explizit als christlicher Herrscher. Während Jahrhunderten war er eine Symbolfigur, der christlich-abendländische Herrscher schlechthin. In der erwähnten Karls-Epik wird das gelegentlich überhöht, kämpfte Karl doch in Wirklichkeit in Spanien nicht zu Gunsten des Christentums gegen die muslimischen Mauren, sondern im Dienste des einen Emirs gegen den anderen. Und die legendäre Niederlage bei Roncevaux in den Pyrenäen brachten den Franken nicht die Mauren bei, sondern christianisierte Basken.
Doch die Einigung Westeuropas, die Reform der Bildung und die Neuordnung des Wissens, das Wiederbeleben des Römischen Reiches, das waren Leistungen, die, so Claudia Zey, Professorin für Allgemeine Geschichte des Mittelalters an der Universität Zürich, «starke Identifikationsmöglichkeiten» boten. 1165 liess Kaiser Friedrich Barbarossa Karl den Grossen heiligsprechen. Ein heiliger Kaiser stützte fortan die Legitimität des Heiligen Römischen Reiches.
Karl und die Schweiz
In der Schweiz sind aus karolingischer Zeit enorm viele «Realien» geblieben, allen voran das Kloster Sankt Johann in Müstair und der Handschriftenbestand der St. Galler Stiftsbibliothek. Im erwähnten Buch «Die Zeit Karls des Grossen in der Schweiz» findet sich ein beeindruckendes Inventar karolingischer Kulturschätze im Gebiet der heutigen Schweiz.
Dass hier zu jener Zeit so viel Kunst entstand und so viele Klöster aufblühten, habe mit der Verkehrslage der Schweiz zu tun, den Pässen, die zwischen Karls Reichshauptstadt Aachen und seinen Gebieten in Italien sowie Rom lagen, sagt der Kunsthistoriker Georges Descoeudres. Dass sie erhalten geblieben seien, liege daran, dass die Schweiz im Mittelalter nur in schwachem Ausmass Schauplatz von grossen europäischen Machtkämpfen und Kriegen gewesen sei.
Zeugnisse einer europäischen Blütezeit
Viele dieser Zeugnisse jener ersten europäischen Blütezeit seit dem Goldenen Zeitalter des Römischen Reiches im 1. Jahrhundert vor Christus sind bis zum 2. Februar 2014 in der Ausstellung «Karl der Grosse und die Schweiz» im Landesmuseum in Zürich zu sehen.
Unter anderem Karls persönliches Brustkreuz, das erste 3-D-Modell des berühmten St. Galler Klosterplans, kostbare Handschriften – und nicht zuletzt fränkische Waffen, die daran erinnern, dass Karl eben nicht nur ein kultureller Reformer war, sondern auch ein knallharter Krieger und Machtpolitiker.