Viktor Adler würde sich im Grab umdrehen. Auf dem nach dem Gründer der österreichischen Sozialdemokratie benannten Markt im Herzen des Wiener Arbeiterbezirks Favoriten hält die rechtspopulistische FPÖ eine ihrer zentralen Wahlkampfveranstaltungen ab. Ausgerechnet dort, auf heiligem, rotem Boden.
Heinz-Christian Strache, braungebrannter Bürgermeister-Kandidat in legerem, blauem Jackett, erklimmt die Bühne und beginnt vor Tausenden fähnchenschwenkenden Zuhörern über Flüchtlinge und Asylwerber herzuziehen. Sie würden von der öffentlichen Hand grosszügig alimentiert, während arme, alte Wiener Mütterchen, die ihr Leben lang «brav gearbeitet» hätten, mit kärglichen Mindestpensionen ihr Auslangen finden müssten.
In Favoriten feiern sie den «rechten Recken», der in jungen Jahren als Wehrsportler im Tarnanzug durch Österreichs Wälder gerobbt ist, wie einen Messias. Würde Strache Bürgermeister, so hoffen viele, würde er endlich aufräumen mit dem «Ausländergesindel», das den «fleissigen und anständigen Österreichern» Jobs und Wohnungen wegnähme.
Die rote Basis bröckelt
Der Schriftsteller Doron Rabinovici beobachtet den Wiener Wahlkampf mit Grausen. «Das Problem ist nicht, dass es einen Machtwechsel geben könnte», räsoniert er, «Wien ist eine Grossstadt – warum nicht? Das Problem ist: Welcher Wechsel würde da auf uns zukommen?»
Dass Heinz-Christian Strache tatsächlich Wiener Bürgermeister werden könnte, glaubt nicht einmal der umstrittene Rechts-Politiker selber. Aber seine Freiheitlichen rütteln doch heftig am Tor des Wiener Rathauses – bislang eine uneinnehmbare Festung der Sozialdemokratie. Die Wiener SPÖ ist mit 100‘000 Mitgliedern eine der grössten Stadtparteien Europas.
In aktuellen Meinungsumfragen liegen SPÖ und FPÖ derzeit gleichauf: Beide Parteien können mit 35 bis 38 Prozent Wählerzustimmung rechnen – für die machtverwöhnte SPÖ ein katastrophaler Wert.
Besonders bitter für die Sozialdemokraten: Mit ihren ausländerfeindlichen Sprüchen punktet die FPÖ gerade in den traditionsreichen Arbeiterbezirken: Simmering, Ottakring, Favoriten und Floridsdorf.
«Leute fühlen sich in ihrem Rassismus nicht gehört»
Um Kommunalpolitik, so sieht es wenigstens Doron Rabinovici, geht’s bei der kommenden Wahl am allerwenigsten. Dass Wien eine hervorragend verwaltete Grossstadt ist – eine saubere, sozial durchmischte Metropole mit relativ günstigen Wohnungen, vorbildlichem öffentlichen Verkehr und breitem Kulturangebot – bestreiten auch die Gegner der rot-grünen Stadtregierung selten.
Wie könnten sie auch? Von internationalen Agenturen wurde Wien in den vergangenen Jahren gleich mehrfach zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt, zuletzt vor einigen Monaten wieder, vor Zürich und dem neuseeländischen Auckland. «H.C. Strache und die Freiheitlichen werden nicht gewählt, weil irgendetwas an der Kommunalpolitik schlecht wäre», so Rabinovici. «Sie werden gewählt, weil sich die Leute in ihrem Rassismus nicht gehört fühlen.» Strache hört sie, die Leute.
Hilfe gegen Gewalt in 12 verschiedenen Sprachen
Rabinovicis Schriftsteller-Kollegin Marlene Streeruwitz ist nicht ganz so pessimistisch: «Ich bin immer noch überwältigt von der Hilfsbereitschaft der vielen Freiwilligen, die auf dem West- und dem Hauptbahnhof geholfen haben, die Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten zu versorgen», schwärmt die Autorin, die davon ausgeht, dass das Wiener Wahlvolk am Sonntag «vernünftig» wählen wird.
In diesem Zusammenhang verweist auch Steeruwitz auf die engagierte Sozialpolitik des «Roten Wien». In der Frauenpolitik zum Beispiel: «Wenn Sie zum Opfer männlicher Gewalt werden – und das werden viele Frauen – finden Sie in Wien innerhalb kürzester Zeit professionelle Hilfe in 12 verschiedenen Sprachen. So etwas gibt es sonst in kaum einer Stadt.»
Für vorbildlich hält Steeruwitz auch den sozialen Wohnbau in Österreichs Metropole: «Linke Intellektuelle in New York preisen Wien als grosses Vorbild an. Hier gibt es noch leistbaren Wohnraum für weniger privilegierte Gehaltsgruppen.»
Sozialer Wohnbau als Errungenschaft
220‘000 Gemeindewohnungen, eine der Errungenschaften der sozialdemokratischen Stadtverwaltung in den 1920er- und 30er-Jahren, gibt es heute in Wien, ein Viertel der Bevölkerung lebt in kommunalen Wohnanlagen wie dem Karl-Marx-Hof, dem George-Washington-Hof und dem Helmut-Qualtinger-Hof.
Was Streeruwitz freilich nachdenklich stimmt: Im Karl-Marx-Hof, einer riesigen Wohnhausanlage im Norden Wiens, leben 5000 Menschen. Mehr als 40 Prozent von ihnen werden laut Vorhersagen am kommenden Sonntag ihr Kreuzchen bei der radikalen Rechten machen.