Frau Dettmer-Finke, in Ihrem Dokumentarfilm stellen Sie die These auf, dass sich bei den hochmotivierten und stets bereiten Künstlern die Arbeitswelt von morgen zeigt. Sie stellen fest, dass sich die Kulturförderung immer mehr zurückzieht, weil die Künstler scheinbar auch mit sehr wenig Geld immer noch durchkommen.
Reinhild Dettmer-Finke: Ich würde es noch zuspitzen: Ich glaube, dass das Prekariat – das Leben ohne gesichertes Einkommen – schon jetzt das Rollenmodell unseres gesamten Systems ist. Es fallen auch in anderen Bereichen immer mehr Arbeitsplätze weg, die eine längerfristige Perspektive bieten. Der Begriff Freiheit, der erst einmal positiv konnotiert ist, bedeutet eben auch: frei von allen Verbindlichkeiten, von jeder Absicherung. Das fand ich als Ergebnis meiner filmischen Beschäftigung mit dem Thema am traurigsten, denn ich sehe diesen Trend nicht nur in der Kunst, sondern in der gesamten Gesellschaft bestätigt.
Wie ist Ihre eigene Situation als Filmemacherin?
Ich arbeite freiberuflich, und das schon lange. Dadurch habe ich mitgekriegt, wie die Arbeitsbedingungen sich verschlechtert haben. Sendeplätze, wo mit einer gewissen künstlerischen Freiheit und einer angemessen Entlöhnung gearbeitet werden kann, sind weniger geworden. Das Programm besteht immer mehr aus klar definierten Formaten, für die wir zuliefern müssen. Wir werden zunehmend zu Mediendienstleistern. Und dadurch, dass man heute um Dinge wie professionelle Fotos selber besorgt sein muss, stelle ich fest: Unter dem Strich verdiene ich tatsächlich nicht mehr als vor 20 Jahren.
Hand aufs Herz: Wenn Sie Kulturministerin wären und Ihr Budget würde gekürzt, wo würden Sie sparen?
Das ist eine tückische, teuflische Frage! Denn das ist eigentlich die Grundfrage, bei der jeweils das Soziale gegen das Kulturelle ausgespielt wird, gerade auch in Zeiten sozialer Not wie jetzt mit der Situation der Flüchtlinge. Da würde ich argumentieren: Damit wir mit diesen grossen Herausforderungen umgehen können, müssen wir wissen, wer wir sind und wie wir leben wollen. Dafür ist die Kultur unerlässlich, davon bin ich überzeugt.
In Ihrem Film haben Sie nach neuen Antworten und Lösungsansätzen für die schwierige Situation gesucht, die ja tatsächlich in vielen Städten Europas Realität ist. Was haben Sie gefunden?
Die Begegnung mit Jean Blaise, dem Kulturmanager der französischen Stadt Nantes, fand ich beeindruckend: Er hat es geschafft, aus der ehemalig maroden Industriestadt eine Kulturstadt zu machen. Er zeigt, dass man erfolgreich sein kann, wenn man eine Vision hat und an ihr kontinuierlich arbeitet und Verbündete sucht – auch wenn man zuerst einmal verlacht oder abgelehnt wird.
Auch das Gespräch mit dem Psychoanalytiker Karl-Josef Pazzini hat sich mir besonders eingeprägt. Er macht deutlich: Die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst bringt mich vielleicht zuerst einmal in eine Abwehrhaltung – weil sie mir fremd ist. Aber genau dadurch ist sie auch eine Schule für Demokratie. Denn auch unsere Gesellschaft ist durch die Einwanderung immer mehr mit uns fremden Lebensformen konfrontiert, die ich nicht sofort verstehe. Kunst kann mich dazu bringen, mich damit zu befassen – und dann vielleicht zu verstehen.
Welches Modell ist für Sie das Modell der Zukunft, um Kultur zu finanzieren bei bleibend kleinem Budget?
Ich würde mir wünschen, dass Menschen, die wohlhabend bis reich sind, sich zunehmend als Mäzene engagieren. In der Schweiz gibt es dieses System durch Stiftungen teilweise schon. Im Bereich der Elitekultur wie Oper schlage ich vor, dass für jeden einzelnen Platz transparent gemacht wird, wie viel Geld dieser Platz effektiv kostet – und wie viele Förderungsgelder zusätzlich zum Eintritt darin stecken.
Ich bin sicher, dass es Menschen gibt, die dann sagen: «Ich kann mir das leisten, ich bin bereit diesen vollen, kostendeckenden Preis zu bezahlen.» Auch das wäre eine einfache Form, durch den vorhandenen Reichtum die Kultur zu fördern.
Welches kulturelle Ereignis in Ihrem Leben bisher hat Sie am meisten berührt oder geprägt?
Ich bin mit Jahrgang 1959 in einem kleinen niedersächsischen Dorf aufgewachsen und war als Kind nie in einem Kino. Und da kamen einmal Leute in den Saal des Gasthauses und haben 16-Milimeter-Filme gezeigt: Charlie Chaplin und Buster Keaton. Diese Filme zu sehen empfand ich als grosses Glück.
Ebenso gab es in dieser dörflichen Atmosphäre kein Theater. Als dann – da war ich in der sechsten Klasse – die niedersächsische Landesbühne in die nahegelegene Stadt kam und Franz Kafkas «Prozess» zeigte, wusste ich: Ich habe zwar nicht viel verstanden, aber damit will ich mich beschäftigen.
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