Christian Müller trägt sein Haar lässig zerzaust, sein Hemd ist weiss, man merkt rasch, dass sich der 52-Jährige gerne bewegt. Er joggt und macht Leichtathletik. Und er pendelt zwischen seinen beiden Architekturbüros in Rotterdam und Zürich. Eine Woche ist er in Rotterdam, die andere Woche ist er in Zürich.
Seit sein Elternhaus verkauft ist, wohnt er während der «Zürcher Woche» bei Freunden – in Neuenburg, Lenzburg, bei seinem betagten Vater in der Ostschweiz oder eben dort, wo er Projekte hat, in einem Hotel in Armenien oder Nepal. «Ich sage überall, dass ich nach Hause gehe. Und zuhause ist dort, wo ich übernachte», sagt Müller lachend.
Strukturen sind nötig
Klar, Rotterdam sei der «erste» Wohnsitz, sagt Müller. Hier lebt er mit seiner Frau, einer freischaffenden Künstlerin und seinem 15-jährigen Sohn; hier pflegt er sein Beziehungsnetz. Zu fix abgemachten Terminen trifft er seine Freunde in einer Leichtathletikgruppe. «Je chaotischer ich unterwegs bin, desto mehr Strukturen braucht es. Meine Frau und ich haben klar abgemacht, welcher Abend wem gehört. Diese Klarheit ist nötig, sonst muss man ständig alles diskutieren und in Frage stellen. Das wäre viel zu kompliziert», erklärt Müller.
Er gibt zu, dass sein nomadenhaftes Unterwegssein manchmal auch anstrengend ist. Der Koffer sei immer zu schwer – und trotzdem habe er nicht alles dabei. Aber die Vorteile überwiegen eindeutig: Unabhängigkeit, Inspiration durch andere Mentalitäten und Kulturen, spannende Aufträge – das sind einige davon.
Das Unterwegssein zwischen den verschiedenen festen und temporären Wohnsitzen ist ein wesentlicher Bestandteil seiner Lebensweise. Diese Lebensweise hat Müller schon früh kennengelernt: «Mein Vater war Bauingenieur im Tunnelbau. Wir sind alle ein bis zwei Jahre umgezogen. Das ist Teil meiner Kindheitserfahrung.»
Multilokalität – ein Wohlstandsphänomen
Dass biografische Erfahrungen mitentscheidend sind, ob sich jemand auf das Konzept mit verschiedenen Wohnorten einlässt, bestätigt Nicola Hilti. Sie ist Soziologin und Mitverfasserin einer Studie über multilokales Wohnen der ETH Zürich, der Uni Basel und der Hochschule Luzern. Dass Christian Müller primär aus beruflichen Gründen an mehreren Orten wohne, sei hingegen untypisch. Vielmehr seien in der Schweiz Freizeit und Beziehungen Gründe für multilokales Wohnen. Oder anders gesagt: Multilokalität ist vor allem ein Wohlstandsphänomen.
Die Studie zeigt auch, dass die modernen Nomaden oft mehr Wohnraum brauchen, dass die Vielfalt der Wohnformen aber überraschend gross und bunt ist. Neben den klassischen Mietwohnungen oder dem WG-Zimmer gibt es informelle Varianten wie das Sofa bei den Eltern oder Freunden.
Teil eines gesellschaftlichen Wandels
«Dieses Phänomen muss uns dringend interessieren», sagt Hilti. «Wir müssen uns auch fragen, was es für die Verkehrsinfrastruktur bedeutet oder für Quartiere, wenn ein Teil der Bevölkerung nur sporadisch da ist.» Das multilokale Wohnen sei fast schon ein Massenphänomen, das den gesellschaftlichen Wandel spiegle, und das vermutlich weiter zunehmen werde.