Frau Jegher, der Film «Difret» spielt in Äthiopien. Ist Zwangsverheiratung vor allem ein äthiopisches Problem?
Stella Jeger: Äthiopien zählt immer noch – trotz Gesetzgebung, die geändert hat – zu den Ländern mit der höchsten Rate von Zwangsverheiratung. Man geht davon aus, dass es ungefähr 40 Prozent sind von den Kindern, die verheiratet werden bevor sie 18 Jahre alt sind. Aber wir kennen Zwangsverheiratung auch aus Osteuropa, aus Zentralasien, aus asiatischen Ländern und aus Lateinamerika.
Die Anzahl zwangsverheirateter Mädchen ist immer noch sehr hoch, obwohl etliche Staaten Kinderverheiratungen verboten haben.
Neue Studien der UNO zeigen, dass es etwa 37‘000 Mädchen pro Tag sind, die unter 18 Jahren verheiratet werden. Man rechnet damit, dass alleine im Jahr 2015 ungefähr 13,5 Millionen Mädchen neu verheiratet werden in dem Alter. Und etwa 4 Millionen unter dem Alter von 15.
Es hat damit zu tun, dass es traditionelle Gemeinschaften gibt, auch Religionsgemeinschaften, die sich nicht von einem Gesetz beeinflussen lassen wollen und darum die Praxis weitertreiben.
Vor allem auf dem Land herrschen also immer noch eigene Gesetze.
Ja, es ist eine giftige Mischung aus Armut, patriarchalen Traditionen und sexistischer Diskriminierung von Frauen und Mädchen. Mädchen sollen nicht eigenständig werden, nicht heranwachsen zu Frauen, die als wirtschaftliche, politische oder gesellschaftliche Konkurrenz verstanden werden. Das läuft oft über die Kontrolle der Sexualität der Frauen und fängt leider schon bei der Sexualität der Mädchen an.
Die Familien meinen aber auch oft, sie täten etwas Gutes: Wenn eine arme Familie ihr Mädchen dem Mann einer reicheren Familie gibt, dann muss sie ein Maul weniger stopfen und ermöglicht dem Mädchen allenfalls eine Chance auf eine bessere Zukunft. Man weiss auch, dass Familien im Krieg oder auf der Flucht ihre Mädchen noch viel früher zwangsverheiraten, weil sie sie damit schützen wollen vor Vergewaltigungen durch Drittpersonen.
Die Zwangsverheiratung als Rettung?
Das ist natürlich ein Irrtum, weil sexuelle Gewalt doch stattfindet, auch wenn das dann als Ehe definiert ist.
Die frühen Schwangerschaften sind – neben der sexuellen Gewalt – ebenfalls ein grosses Risiko für die Mädchen.
Schwangerschaftskomplikationen sind die häufigste Todesursache von Teenagermädchen. Frühverheiratung heisst für ein Mädchen, dass sie nicht die Chance hat, ein eigenständiges Leben zu führen und sich eine eigene ökonomische Grundlage aufzubauen. Und das heisst, dass sie in der Versenkung einer neuen Familie verschwindet – im besseren Fall – und im schlimmeren Fall, dass sie wieder verstossen wird oder am Schluss gar in der Prostitution landet.
Wie unterstützt Amnesty International die Mädchen vor Ort?
Unser Problem ist: Oft ist keine Klägerin vorhanden. Wo keine Klägerin ist, da ist kein Richter. Der Grund: Die Mädchen wissen häufig nicht, dass sie sich wehren können und wie sie sich wehren können. Es gibt keine Anlaufstelle oder eine Person, an die sich wenden könnten und sagen, mir wird da grade Unrecht getan – falls sie überhaupt wissen, dass es Unrecht ist.
Der Film «Difret» zeigt mit der jungen Anwältin, die das Mädchen Hirut verteidigt, dass Kräfte im Land selber am meisten bewirken können, weil sie die Traditionen kennen und am besten wissen, wie man argumentieren kann. Wir von Amnesty International versuchen, solche Stimmen zu stärken, aufzuklären und Öffentlichkeitsarbeit zu leisten.
Und den Menschen beizubringen, dass Menschenrechte über Tradition steht?
Links zum Thema
Genau. Tradition darf nicht über dem Recht stehen auf körperliche Unversehrtheit oder sexuelle Selbstbestimmung. Da gibt es eine klare Hierarchie in den Rechten, die manchmal aber nicht einfach zu definieren ist.
Ich erinnere daran, dass auch in der Schweiz mit Tradition begründet wurde, dass Frauen nicht am politischen Leben teilhaben dürfen. Und dass man schlussendlich den Kanton Appenzell dazu zwingen musste, – entgegen der eigenen Tradition – das Grundrecht auf politische Beteiligung der Frauen anzuerkennen.