Die Frage nach der Identität ist bei Künstlern eine zentrale. «Wer ist die Person und wie verhält sie sich zum Werk? Ist das alles glaubwürdig?» – das sind Standartfragen.
Bei Naegeli hat die Frage nach der Identität zu Beginn seiner Sprayer-Karriere einen ganz anderen simplen Hintergrund: Er bleibt anonym, um der Strafverfolgung zu entgehen. Das ist 1977 und Naegeli beginnt, Wände voll zu sprayen, um gegen die «Unwirtlichkeit der Städte» zu protestieren.
1979 wird er von einem Wachmann erwischt. Gerangel. Naegeli verliert seine Brille, kann entkommen – geht aber zurück, um seine Brille zu holen. Die Polizei wartet bereits.
Während des Prozesses setzt er sich nach Köln ab, sprayt da fleissig weiter, gibt Fernsehinterviews mit vermummtem Gesicht. Medienwirksam. Person und Werk stimmen so wunderbar überein, dass aus Naegeli eine Kultfigur wird.
«Der Sprayer aus Zürich» wird zum Label und die Kunstaffinen sind begeistert. Da ist einer, der grünes Gedankengut auf die kalten Betonherzen unmenschlicher Agglomerationen sprayt. Graffiti als politische Kunst ist geboren und hat einen Namen, eine Identität: Naegeli.
Nachdem er mit Köln durch ist, geht er nach Düsseldorf. Als dann die Schweiz ein Auslieferungsgesuch stellt, geht das in Deutschland rauf bis zum obersten Gericht. Naegeli ist zur nationalen Sache geworden. Joseph Beuys verwendet sich für ihn und irgendwann auch der ehemalige deutsche Bundeskanzler Willy Brandt.
Naegeli – die doppelte Identität
Zu dieser Zeit hat Naegeli eine doppelte Identität. In Deutschland gilt er als politischer Künstler auf der Flucht, daheim in Zürich beschreibt die Anklageschrift seine Identität ganz anders: Er sei ein «krimineller Sprayer», der mit einem «brutalen Angriff auf das Schweizer Eigentum … über Jahre hinweg mit beispielloser Härte, Konsequenz und Rücksichtslosigkeit die Einwohner von Zürich verunsichert» habe. Naegeli wird verurteilt: zu neun Monaten Haft und 206 000 Franken Strafe.
Als Naegeli seiner Strafe nicht entgehen kann, entschliesst er sich, sich zu stellen. In Lörrach kommt es zum Happening. Beuys, mit blauem Mikrofon bewaffnet, stellt sich während der Interviews neben Naegeli. Ob Beuys was aufnehmen oder nur mit aufs Bild wollte, weiss man nicht.
Identität als künstlerischer Prozess
Und während Naegeli seine Identität über Jahre geheim hielt, ging Joseph Beuys mit seiner Identität so frei, kreativ und erfinderisch um, wie mit jedem anderen Material – egal ob er nun Filzbestände dezimierte, Bäume pflanzte, direkte Demokratie als Kunstprojekt definierte oder toten Tieren seine Kunst erklärte. Beuys erschuf vor allem eines immer wieder neu: sich selbst, seine Identität.
Zentral für die kultische Verehrung des Künstlers ist die Geschichte von Beuys` Flugzeugabsturz als Bordfunker während des Ostfeldzuges im Zweiten Weltkrieg.
Beuys hat diese Geschichte immer wieder als Initialzündung für die neue Richtung seines Lebens erzählt: Abgestürzt und von Tartaren gefunden, darunter ein paar Schamanen, die ihn mit Fett bestrichen und in Filz hüllten. Danach war er geläutert.
Entnazifizierung als Urknall, die biografische Stunde Null im Handumdrehen ...
Das erklärte seine für viele unbegreifliche Kunst so formidabel, dass alle in Ehrfurcht über den geglückten Läuterungsprozess auf die popkulturellen Knie sanken. Eine der wenigen Ausnahmen war der Museums-Hausmeister, der eine stinkende «Fettecke» von Beuys, so hiess das Kunstwerk, einfach wegputzte. Auch Kunstwerke haben eine Identität, man muss sie aber als solche erkennen. Tut man das nicht, dann ist eine «Fettecke» nur stinkende Margarine.
Die Frage nach der Identität ist ein Parameter zur Beurteilung des Kunstwerkes – vor Allem in politischen Kontexten.
Ist das persönliche Engagement nicht glaubwürdig, verpufft die Wirkung des Kunstwerks. Das gilt für alle, die in den letzten Jahren vom Podest fielen wegen Ungeklärtem in ihrer Identität – von Walter Jens bis Günther Grass.
Bekanntheit durch Anonymität
In modernen Zeiten ist die Frage nach der Identität bei einer interessanten Spielform angekommen: Die Identität wird verschleiert – bis hin zur strategisch kalkulierten Anonymität.
Bekanntheit durch Anonymität! Eigentlich ein Widerspruch. Geht aber und funktioniert: Der deutsche Rapper Cro, das ist der mit der Panda-Maske, ist dafür ein Beispiel.
Cro sagt, er könne ohne Maske irgendwohin pinkeln und keinen würde es interessieren. Mit seiner Maske auf sei das etwas gänzlich Anderes. Anonymität und Bekanntheit bedingen sich hier, bei Cro ist seine Maske seine Identität.
Die verschleierte Identität als PR-Massnahme
Das Feld der kalkulierten Anonymität bestellt seit längerem Banksy, der Sprayer, Regisseur, Streetartist und Aktivist. Der will weniger der Strafverfolgung entgehen – wie vor fast 40 Jahren noch Harald Naegeli – sondern bei Banksy gehört die Anonymität zum Konzept.
Die Person des Künstlers fungiert hier als Projektionsfläche: Geht man auf seine Website, wird klar, wie er arbeitet.
Die google-Anfrage: «Wer ist Banksy?» generiert 135 000 Ergebnisse. Es funktioniert. Alle wollen es wissen.
Im Zeitalter der systematischen Überflutung wird Aufmerksamkeit zum seltensten Rohstoff. Strategisch eingesetzte Anonymität wird zum Stimulanz für Bekanntheit.