Ein Plastikbein in rotem Strumpf, ein zerfledderter Teddybär, ein zerrissenes Nachthemd. Dazu jede Menge Gestänge und altertümliche Mechanik. Jean Tinguely konstruierte seine Kunstwerke aus Schrott und Altmaterial. Grosse Maschinen, die an riesige Spielzeuge erinnern.
Der Restaurator Jean-Marc Gaillard legt einen Hebel um und der Wirrwarr aus Schrott setzt sich lautstark in Bewegung. Die Maschine rattert und klappert. Spastisch schwingen Teddybär, Strumpfbein und der restliche Trödel zu Tinguelys «Ballet des Pauvres» hin und her. Das Kunstwerk von 1961 zeigt wie kein zweites: Tinguelys Maschinen sind so konstruiert, dass sich ihr Material zersetzt, sie sich damit selber zerstören.
Ein Rädchen der Tinguely-Maschinerie
Die Maschinen, die heute Millionen wert sind, über Jahre am Leben zu erhalten, ist Jean-Marc Gaillards Aufgabe. Die Wundermaschinen begleiten den 51-jährigen Schweizer seit drei Jahrzehnten. Er selbst ist zu einem Rädchen der Tinguely-Maschinerie geworden.
Einen konventionellen Beruf wollte Gaillard nie ausüben. Zunächst wollte er Waffenschmied werden, Schwerter herstellen, für Museen und Waffensammler. Doch schlug er den Weg als Künstler ein und traf 1986 auf Jean Tinguely. Mehrere Jahre arbeitete er mit ihm zusammen. Heute ist Gaillard Restaurator und Konservator im Museum Tinguely in Basel.
Er hört den Maschinen zu
Die Begeisterung für Tinguely und seine Kunst ist bis heute sein Antrieb,die Maschinen in Bewegung zu halten. Jeden Morgen, wenn die Museumstüren noch geschlossen sind, besucht er Tiguelys Kunstwerke, die er liebevoll seine «Kinder» nennt.
Gaillard weiss, «wie es ‹seinen› Maschinen geht». Er lässt die Motoren in Gang kommen, orientiert sich aber nicht am visuellen Eindruck: «Ich höre ihnen zu. Ich achte auf die Geräusche der Mechanik.»
Notvorrat an Glühbirnen und Trödel
Mechanik aus einem anderen Jahrhundert, deren Einzelteile heute nicht mehr produziert werden. Wenn Einzelteile defekt sind, droht ein Werkverlust, ein Verlust, den Gaillard mit allen Mitteln verhindern will. Schrottlager, Kellerräumungen und Flohmärkte wecken seinen Suchinstinkt: «Kürzlich durchstöberte ich in Rom den Flohmarkt nach Plastikindianern, jenen Sammelfiguren, die in den 70ern den Teigwarenpackungen beilagen.»
Findet er Schrott wie ein Rad von einem Container, einen in die Jahre gekommenen Motor, eine altmodische Bettflasche oder gar eine uralte Schraube, weiss Gaillard auf den ersten Blick, für welche Tinguely-Maschine dieser als Ersatzteil dient. Denn für jedes Werk im Museum lagert eine Kiste, in der er Originalteile aufbewahrt.
Einen imposanten Notvorrat besitzt das Museum an Glühbirnen: rund 30'000 an der Zahl, noch aus der Zeit vor den Energiesparlampen. So können Tinguelys Skulpturen weiterhin in Originalton leuchten.
Ein Rückfahrtticket konnte er sich nicht leisten
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Hellwach sind Gaillards Erinnerungen an seine erste Begegnung mit Tinguely. Für eine Grossskulptur in Milly-la-Forêt nahe Paris suchten Tinguely und sein damaliger Assistent Seppi Imhof tatkräftige Unterstützung für den Aufbau. Die Wahl fiel auf Gaillard, er wurde nach Paris gebeten. «Ich löste eine einfache Fahrt – das Rückfahrtticket konnte ich mir nicht leisten», erinnert sich Gaillard, «doch dann hatten die beiden meine Ankunft schlicht vergessen.» Tinguely kannte er bis dahin nur aus dem Fernsehen.
Statt sein Idol zu treffen, sass er nun ohne Geld am Bahnhof fest. Nach stundenlangem Warten holte ihn Tinguelys damaliger Assistent ab und brachte ihn zum Meister. «Ich bin der Jeannot hat er mich begrüsst. Seine Stimme ist mir bis heute im Ohr.»
Tinguely hat «nicht viel anbrennen lassen»
Tinguely war ein ruhe- und rastloser Mensch. Eine Pause gönnte er weder sich, noch seinen Assistenten. «Er war ungeduldig, schnell musste es gehen», sagt Gaillard. Tinguely habe die Maschinenteile hingehalten, wie er sie wollte, während seine Assistenten diese schweissten. Ein Mensch, «der seine Kerze an beiden Enden abbrennen liess», sagt Gaillard, ständig unter Strom – «überhaupt hat Jeannot in seinem Leben nichts anbrennen lassen». Als Tinguely 1991 mit 66 Jahren starb, «hatte ich das Gefühl, er sei 150 Jahre alt geworden».
Dieser Artikel erschien erstmals am 30.4.2015 auf 3sat.de