München, 2. Januar 1911. Die Maler Franz Marc und Wassily Kandinsky besuchen zusammen einen Konzertabend. Auf dem Programm stehen Werke von Arnold Schönberg, darunter das zweite Streichquartett Opus zehn.
Die dissonanten Klänge elektrisieren Kandinsky – wie sehr, das zeigt ein berühmtes Bild in der Fondation Beyeler, das er als Reaktion darauf malte: «Impression III» (Konzert) – ein abstraktes Gemälde voll starker Farben und Formen, die in einem mitreissenden Strudel nach oben streben.
Malen wie ein Musiker
Kandinsky wollte in der Malerei, ähnlich wie in der Musik, «die Berührung der menschlichen Seele erreichen». In einem Brief an Schönberg schreibt er, wie der Kurator Ulf Küster sinngemäss zusammenfasst: «Ich möchte genauso malen, wie Sie komponieren. Dieses anarchische in Ihrer Kunst, diese Atonalität, das ist was ich will.»
Diese Grenzüberschreitungen verband die Künstler, die wir heute zum Umfeld des «Blauen Reiters» zählen. «Ihnen schwebte der Traum einer grenzenlosen Kunst vor. Ganz entfernt von dem Akademismus des 19. Jahrhunderts. Sie wollten wirklich was ganz Neues machen», meint Kurator Ulf Küster.
Offen für Neues
Das Manifest, in dem dieser Wunsch zum Ausdruck kommt, ist der legendäre Almanach «Der Blaue Reiter», herausgegeben 1912 von Kandinsky und Marc, ein Jahr nach dem gemeinsamen Konzertbesuch.
Das Buch steht im Zentrum der Ausstellung, die sehr schön zeigt, wie Bezüge zwischen Texten und Bildern entstehen, wie stark sich die Künstler von Volkskunst und anderen Kulturen inspirieren liessen, wie offen ihre Wahrnehmung für Neues war.
Früher schockierend
Zeitgleich mit dem Almanach kam auch eine Ausstellung heraus, die durch Europa tourte und viele Betrachter vor den Kopf stiess – es war die Rede von Skandal.
Viele dieser Bilder sind jetzt in der Fondation Beyeler zu sehen. Heutige Betrachter schockieren sie nicht, im Gegenteil. Die expressionistischen Landschaftsbilder, etwa von August Macke oder Gabriele Münter, könnten mit ihren starken Komplementärfarben jeden Kunstkalender schmücken. Und manche der Tierbilder von Franz Marc wirken fast schon gefällig.
Beitrag zum Thema
Noch heute revolutionär
Wie ist es möglich, einem heutigen Publikum zu vermitteln, wie skandalös diese Gemälde vor gut 100 Jahren waren? Indem man den Fokus nicht auf die Bilder legt, sondern auf das Manifest, sagt Ulf Küster: «Indem man dieses Buch zeigt, kann man zeigen, dass diese Idee des Grenzenlosen in der Kunst – dass das auch heute noch revolutionär ist. Eine der Botschaften der Ausstellung ist ganz klar, dass in der Zeit in der Nationalismen eine Rolle spielen, von denen man nicht geglaubt hätte, dass es das jemals wieder geben könnte, dass es damals schon – von über 100 Jahren – Leute gab, die glaubten, dass es anders sein müsse.»
Artikel zum Thema
Die Farbe explodiert
Die politische Seite von Franz Marc lässt sich in dieser Ausstellung in mehreren Bildern mit Zeitkommentaren entdecken, zum Beispiel in «Die Wölfe – Balkankrieg». Vor allem aber gelingt es der Schau, die Dynamik aufzuzeigen, die damals in kürzester Zeit in die Malerei kam.
In einer Reihe von Gartenbildern von Kandinsky aus dem Jahr 1910 kann man dem Prozess der Abstraktion regelrecht zuschauen. Wie sich die Formen vom Gegenständlichen lösen, wie die Farbe explodiert und ein Rhythmus in die Bilder kommt. Hier vermittelt sich das Gefühl von Freiheit, von Aufbruch, von Grenzüberschreitung, das am Anfang des «Blauen Reiters» stand.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 5.9.2016, 12:10 Uhr.