Ein Fotoshooting in Paris. Viviane Sassen schiesst die neuste Kollektion für das französische Modelabel Carven. Wie immer bei Fashionshoots stehen mindestens 20 Leute herum. Sie wirken gelangweilt. Wer wofür zuständig ist, kann man nur erahnen. Mal schaut ein «Artistic Director» auf die Bilder und haucht «fabulous», mal sprüht ein Stylist Haarspray in die toupierten Frisuren. Es läuft 80er-Jahre-Musik. Die Models sind kaum 16. Man wundert sich, wie die Fotografin zu einer solchen Musik arbeiten kann. Die Geräuschkulisse wird nur unterbrochen durch das Nachglühen der Blitzgeräte.
Eigentlich sind wir hier, um mit Sassen über ihre Karriere als Fotografin zu reden. In den späten 1990er-Jahren suchte sie sich schräge Locations, nahm eine Tasche voll Requisiten und begann zu experimentieren. Ihre ersten selbstpublizierten Heftchen waren wunderbar trashige «Ego Documents», in denen eine Generation sehr viel Spass daran hatte, sich selbst halbnackt in Szene zu setzen. Es drehte es sich alles um Improvisation. Sassen legte ihre Frauen auch mal halbnackt über den Tisch, um sie abzulichten, oder zeigte sie nackt von hinten, mit einer Früchtemischung zwischen den Beinen.
Durchkomponierte Snapshots
Eines der Markenzeichen von Viviane Sassen sind Körperverrenkungen. Und Beine. Frauenbeine abzulichten, egal in welchem Setting: Da kennt Viviane Sassen kaum Grenzen. Sie fotografiert Models, die sich ihre schmerzenden Füsse halten, daneben liegen Gurkenstücke einer nicht mehr gebrauchten Gesichtsmaske. Bilder, die aussehen wie Snapshots, aber schön durchkomponiert sind. Bezeichnend ist eines ihrer Selbstporträts, auf dem man nur ihre Beine sieht, einer Hecke entlanggehend. Den Rest des Bildes hatte sie selber wegretuschiert. Sie mag Fotos von sich selber nicht, obwohl sie früher selbst Model war. Oder gerade deswegen.
Das Shooting in Paris ist vorbei. Sassen zieht sich für das TV-Interview einen Pullover über. Das einzig Auffallende an ihrer Kleidung sind ihre pink-glitzernden Turnschuhe, die sie schon den ganzen Tag trägt. Vom Fotoshooting noch aufgekratzt sagt sie Dinge wie: «Für Kleider interessiere ich mich nur wenig.» Oder: «Wenn es nur ein schönes Mädchen in einem schönen Dress ist, verliere ich schnell das Interesse.» Und: «Es gibt nur sehr wenige Models, die interessant genug sind, dass ich ihnen in die Augen schauen will.»
Die Kleider dienen als Zelt
Auffallend an ihren Bildern ist, dass die Gesichter der Models meist keine Rolle spielen. In einem ihrer bekanntesten Fotos, das sie für das Magazin «Dazed & Confused» geschossen hat, lässt sie ein Model in einem Tulpenfeld hoch und runter hüpfen, sodass man nur noch Stoff, aber kaum mehr die Frau dahinter sieht. Für eine Schuhkampagne spannt sie ein Zelt aus Kleidern über ein liegendes Model, um nur die Beine mit den Schuhen herausragen zu lassen. Man spürt es in ihren Bildern immer wieder, dieses Spielen mit Requisiten, dieses Improvisieren.
Tourstop in Winterthur
Als wir sie ein zweites Mal in Winterthur im Fotomuseum treffen, ist sie beim Mittagessen. Sie ist müde vom vielen Reisen. Marrakesch, Paris, Amsterdam und jetzt Winterthur, sie ist hier für den letzten Schliff an ihrer Ausstellung, die schon eine Weile durch Europa tourt. Es ist wenig Mode und viel nackte Haut zu sehen. Kurator Duncan Forbes zeigt mir sein Lieblingsbild, eine Art Wunde, eingeritzt in eine Baumrinde. Es sei das erotischste Bild von allen, meint er. Naja.
Die Bilder hängen in gedimmtem Licht, was ihnen gut tut. In einem Raum flackert eine Videoprojektion mit Sassens Modefotos der letzten 20 Jahre. Sassen steht davor und schaut sich ihr Lebenswerk an. Sie weiss, dass sie dabei gefilmt wird. Sie weiss damit umzugehen, die Kamera zu lenken. Es ist kein Posieren, aber es ist das Bewusstsein einer Fotografin, die weiss, wie Bilder wirken.